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[Planá. Ankunftstempel: Praha-Hrad, 30.6.22]

[An:] Martin Salvat Praha-Hrad poste restante

[Abs.:] Dr Kafka Planá nad Lužnici n pí Hniličkové


Lieber Max, es ist nicht leicht, aus Deinem Brief den Kern der trüben Stimmung herauszufinden, die mitgeteilten Einzelheiten genügen kaum. Vor allem: die Novelle lebt, genügt das nicht, das eigene Leben zu beweisen? (Nein, dafür genügt es nicht.) Aber genügt es nicht, um davon zu leben? Dazu genügt es, genügt, um in Freuden und sechsspännig zu leben. Das andere? E. schreibt unregelmäßig, aber wenn es nichts weiter ist, wenn der Inhalt untadelig ist? Rosenheims Brief, ein diplomatischer Fehler des Dreimaskenverlags, nicht? Also auch diplomatisch gutzumachen. Die Schrekkensnachrichten? Meinst Du etwas anderes als Rathenaus Ermordung? Unbegreiflich, dass man ihn so lange leben ließ, schon vor zwei Monaten war das Gerücht von seiner Ermordung in Prag, Prof. Münzer verbreitete es, es war so sehr glaubwürdig, gehörte so sehr zum jüdischen und zum deutschen Schicksal und steht in Deinem Buch genau beschrieben. Aber das ist schon zu viel gesagt, die Sache geht über meinen Gesichtskreis weit hinaus, schon der Gesichtskreis hierum mein Fenster ist mir zu groß.

    Politische Nachrichten erreichen mich jetzt - wenn mir nicht ärgerlicherweise doch eine andere Zeitung geschickt wird, die ich verschlinge - nur in der ernstlich ausgezeichneten Form des Prager Abendblatt. Liest man nur dieses Blatt, so ist man über die Weltlage so unterrichtet, wie man etwa über die Kriegslage durch die Neue Freie Presse unterrichtet war. So friedlich wie damals der Krieg, ist jetzt nach dem Abendblatt die ganze Welt, es streichelt einem die Sorgen weg, ehe man sie hat. Jetzt erst sehe ich die wirkliche Stellung Deiner Artikel innerhalb des Blattes. Vorausgesetzt, dass man Dich liest, kannst Du Dir keine bessere Umgebung wünschen, von den Seiten her mischt sich nichts Verwirrendes in Deine Worte, es ist völlig still um Dich. Und es ist eine so schöne Art des Verkehrs mit Dir, die Aufsätze hier zu lesen. Ich lese sie auch auf die Stimmung hin, Smetana und Strindberg schienen mir gedämpft, aber "Philosophie" klar und gut. Das Problematische der "Philosophie" scheint mir übrigens deutlich jüdische Problematik zu sein, entstanden aus dem Wirrwarr, dass die Eingeborenen einem, entgegen der Wirklichkeit, zu fremd, die Juden einem, entgegen der Wirklichkeit, zu nah sind und man daher weder diese noch jene in richtigem Gleichgewicht behandeln kann. Und wie sich dieses Problem erst auf dem Land verschärft, wo auch die ganz Fremden grüßen, aber nur manche, und wo man keine Möglichkeit mehr hat, etwa einen alten ehrwürdigen Mann, der mit einer Axt über der Schulter auf der Landstraße vorübermarschiert, nachträglich, so sehr man sich anstrengt, mit dem Gegengruß zu überholen.

    Es wäre schön hier, wenn Ruhe wäre, es ist doch ein paar Stunden Ruhe, aber bei weitem nicht genug. Keine Komponierhütte. Ottla ist aber wunderbar fürsorglich (läßt Dich grüßen, Dein Gruß hat sie in ihrer Trauer über einen etwas mißlungenen Kuchen sehr getröstet). Heute z. B. ein unglücklicher Tag, ein Holzhacker hackt der Hausfrau schon den ganzen Tag Holz. Was er unbegreiflicherweise den ganzen Tag mit den Armen und mit dem Gehirn aushält, kann ich mit den Ohren gar nicht aushalten, nicht einmal mit Ohropax (das nicht ganz schlecht ist; wenn man es ins Ohr steckt, hört man zwar genau so viel wie früher, aber mit der Zeit wird doch eine leichte Kopfbetäubung erzielt und ein schwaches Gefühl des Geschütztseins, nun, viel ist es nicht). Auch Kinderlärm und sonstiger. Auch mußte ich heute für eire paar Tage das Zimmer wechseln, dieses Zimmer, das ich bisher hatte, war sehr schön, groß, hell, zweifenstrig, mit weiter Aussicht und es hatte in seiner vollständig armen, aber unhotelmäßigen Einrichtung etwas, was man "heilige Nüchternheit" nennt.

    An einem solchen lärmvollen Tag, und es werden mir jetzt einige bevorstehn, einige gewiß und viele wahrscheinlich, komme ich mir wie aus der Welt ausgewiesen vor, nicht einen Schritt wie sonst, sondern hunderttausend Schritte. - Kaisers Brief (ich habe ihm nicht geantwortet, es ist zu kleinlich wegen der doch hoffnungslosen außerdeutschen Veröffentlichungen zu schreiben) hat mich natürlich gefreut (wie leckt Not und Eitelkeit solche Dinge auf!), aber unberührt von meiner Methode ist er nicht, auch ist die Geschichte erträglich, ich sprach von der an Wolff geschickten Geschichte, der gegenüber ein unbefangener Mensch nicht im Zweifel sein kann. - Grüße an Dich und die zwei Frauen. An Felix auch, von dem ich mich leider gar nicht verabschieden konnte.

Dein         


Frau Preissová wohnt angeblich hier. Ich hätte große Lust, einmal mit ihr zu sprechen, ebenso groß ist allerdings die Angst und das Unbehagen vor einer solchen Unternehmung. Vielleicht ist sie sehr hochmütig, vielleicht genau so verzweifelt über jede Störung wie ich. Nein, ich will nicht mit ihr sprechen.

    Was wirst Du Kaiser antworten? Hauptmann ist Dir doch so nah, Du wirst es Dir nicht verweigern können, über ihn zu schreiben



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


Rathenaus Ermordung: Am 24. Juni 1922.


Smetana und Strindberg: Brods Besprechungen von Smetanas Oper Das Geheimnis (Tajemství) und Strindbergs Drama Königin Christine waren im Prager Abendblatt vom 23. Juni bzw. 27. Juni 1922 erschienen.


"Philosophie": Max Brod, "Philosophie des Grüßens", Prager Abendblatt, 26. Juni 1922.


Komponierhütte: Kafka bezieht sich auf das Häuschen in den Wäldern am Wörthersee, in das sich Gustav Mahler im Sommer zur Arbeit zurückzog. Siehe auch Kafkas Brief vom 12. Juli 1922 und vgl. Br 389.


Kaisers Brief... die Geschichte: Es handelt sich um Rudolf Kaysers Brief an Brod (siehe Anm. 8 oben), in dem er sich offenbar auf Kafkas kurz zuvor entstandene Erzählung "Ein Hungerkünstler" bezieht, die ihn vermutlich über Brod erreicht hat. Trotz Kaysers lobender Worte, die hier angedeutet werden, hat es nicht den Anschein, dass er sich schon zu diesem Zeitpunkt bereiterklärt hätte, den "Hungerkünstler" in der Neuen Rundschau zu veröffentlichen. Denn statt sich mit einer direkten Äußerung hierüber an Kafka zu wenden, sucht er bloß über Brods Vermittlung Kafkas Meinung über mögliche "außerdeutsche Veröffentlichungen" seiner Werke zu erfahren. Wenn eine solche Rekonstruktion des Inhalts von Kaysers Brief zutrifft, könnte seine Zurückhaltung damit zusammenhängen, dass Brods großer Aufsatz "Der Dichter Franz Kafka", der im Novemberheft 1921 der Neuen Rundschau erschienen war, inzwischen auf Abwehr gestoßen war: "Max Brod schreibt einen Freundeshymnus über "Franz Kafka". Von deutschen Dichtern ist in der "Neuen Rundschau" schon lange nicht mehr die Rede. Sind sie in den Regionen des Verlages S. Fischer ausgestorben?" (Die Schöne Literatur, Beilage zum Literarischen Zentralblatt für Deutschland, 22 Jg., Nr. 24 (19.November 1921), Sp.299-300). Siehe hierzu Anm. 20 unten.


der an Wolff geschickten Geschichte: "Erstes Leid".


Frau Preissová: Gabriela Preissová, Autorin des Dramas, nach dem Janáček das Textbuch seiner Oper Jeji pastorkyna (deutscher Titel: Jenufa) verfaßt hatte.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at