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[Zwei Postkarten. Planá. Stempel: 26.6.22; Ankunftstempel: 26.6.22]

[An:] Martin Salvat Praha-Hrad poste restante

[Abs.:] Dr Kafka Planá nad Lužnici n pí Hniličkové


Lieber Max, ich bin gut untergebracht, allerdings mit unglaublichen Bequemlichkeitsopfern Ottlas, aber auch ohne diese Opfer wäre es gut hier, "soweit ich bisher sehe" (weil man sich nicht "versprechen" darf), mehr Ruhe als auf irgendeiner Sommerfrische bisher, "soweit u. s. w." Zuerst, auf der Fahrt hatte ich Angst vor dem Land. In der Stadt soll nichts zu sehen sein, nach Blüher? Nur in der Stadt ist etwas zu sehn, denn alles, was an dein Waggonfenster vorbeidrängte, war Friedhof oder hätte es sein können, lauter Dinge die über den Leichen wachsen, während sich doch die Stadt sehr stark und lebendig davon unterscheidet. Hier aber, am zweiten Tag, ist es doch recht gut; mit dem Land zu verkehren ist merkwürdig, der Lärm ist da, reicht am ersten Tag, erst am zweiten, ich bin mit dem Schnellzug gekommen, er wahrscheinlich mit dem Lastzug. Ich verbringe die Zeit des verhinderten Nachmittagsschlafes damit, daran zu denken, wie Du Franzi neben dem Neubau schriebst. Viel Glück zu Deiner Arbeit, laß den Strom strömen. - Im Bureau fand ich einen 1½ Monate alten, sehr freundlichen, sehr beschämenden Brief. Meine Selbstverurteilung hat zwei Ansichten, einmal ist sie Wahrheit, als solche würde sie mich glücklich machen, wenn ich die widerliche kleine Geschichte aus Wolffs Schublade nehmen und aus seinem Gedächtnis wischen könnte, sein Brief ist mir unlesbar, dann aber ist die Selbstverurteilung unvermeidlich auch Methode und macht es z.B. Wolff unmöglich, in sie einzustimmen, und zwar nicht aus Heuchelei, die er ja mir gegenüber gewiß nicht anzuwenden nötig hat, sondern kraft der Methode. Und ich staune immer darüber, dass z. B. Schreiber, dessen Selbstverurteilung doch auch beides war, Wahrheit und unvermeidlich auch Methode, nicht mit der Wahrheit (Wahrheit bringt keine Erfolge, Wahrheit zerstört nur das Zerstörte), mit der Methode keine Erfolge gehabt hat. Vielleicht deshalb, weil ihm wirkliche Notlage in die Quere kam, welche derartige Spinnweberfolge nicht entstehen läßt.

    Was für Untersuchungen! Es gibt Dinge, über die nur der Revisor meditieren darf, mit dem Schlußwort: "Was habe ich denn erzählt?"

Dein         



Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.


gut untergebracht: Bei seiner Schwester Ottla, die in Planá an der Lainsitz (südlich von Tábor) eine Sommerwohnung gemietet hatte.
Aus dem "Österreichlexikon": 'Lainsitz, Niederösterreich, östlicher Nebenfluss der Moldau, entspringt nahe Karlstift (936 m) an der Grenze zu Tschechien. Die Lainsitz durchfließt über Weitra (562 m) und Gmünd (499 m) das nordwestliche Waldviertel, erreicht nach der Grenzstadt tschechisches Territorium und mündet als Luznice.' Vielen Dank an Mag. Hubert Prinz für den Hinweis auf die korrekte Benennung.


Brief: Kurt Wolffs Brief vom 10. Mai 1922 (KW 55 f.), in dem er sich für die Erzählung "Erstes Leid" bedankt, die Kafka an Wolffs Mitarbeiter Hans Mardersteig geschickt hatte.


Schreiber: Adolf Schreiber (siehe 1917 Anm.22).


der Revisor: Kafka hatte Nikolai Gogols Der Revisor kurz zuvor in Prag gesehen (siehe seinen Brief an Felix Weltsch, Br. 376f.). Brod hat die Aufführung im Prager Abendblatt (14. Juni 1922) besprochen.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at