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[Tagebuch, 20. Oktober 1921; Donnerstag]

20 (Oktober 1921) Nachmittag Langer, dann Max, liest Franzi vor

Ein Traum, kurz, in einem krampfhaften kurzen Schlaf, krampfhaft mich festgehalten, in maßlosem Glück. Ein vielverzweigter Traum, enthaltend 1000 gleichzeitig mit einem Schlag klar werdende Beziehungen, übriggeblieben ist kaum die Erinnerung an das Grundgefühl: Mein Bruder hat ein Verbrechen, ich glaube, einen Mord begangen, ich und andere sind an dem Verbrechen beteiligt, die Strafe, die Auflösung, die Erlösung kommt von der Ferne her näher, mächtig wächst sie heran, an vielen Anzeichen merkt man ihr unaufhaltsames Näherkommen, meine Schwester, glaube ich, kündigt diese Zeichen immer an, die ich immer mit verzückten Ausrufen begrüße, die Verzückung steigert sich mit dem Näherkommen. Meine einzelnen Ausrufe, kurze Sätze, glaubte ich wegen ihrer Sinnfälligkeit nie vergessen zu können und weiß jetzt keinen einzigen mehr genau. Es konnten nur Ausrufe sein, denn das Sprechen machte mir große Mühe, ich mußte die Wangen aufblasen und dabei den Mund verdrehn, wie unter Zahnschmerzen ehe ich ein Wort hervorbekam. Das Glück bestand darin, dass die Strafe kam und ich sie so frei, überzeugt und glücklich willkommen hieß, ein Anblick, der die Götter rühren mußte, auch diese Rührung der Götter empfand ich fast bis zu Tränen.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at