Voriger Eintrag | Jahresübersicht | Indexseite | Nächster Eintrag |
[An Ottla und Josef David]
Liebe Ottla,
ich habe Dir schon lange nicht
geschrieben, denn wenn es mir gut geht, im Wald, in der vollkommenen Stille,
mit Vögeln, Bach und Wind wird man auch still und wenn ich verzweifelt
bin, in der Villa, auf dem Balkon, in dem vom Lärm zerstörten
Wald kann ich nicht schreiben, weil meinen Brief auch die
Eltern lesen. Das Letztere ist leider viel häufiger, das erstere
kommt aber auch vor, die letzten 2 Nachmittage z. B. war es so, heute nicht
mehr ganz; ich wundere mich aber nicht darüber, so viel Ruhe, als
ich brauche, gibt es auf der Welt nicht, woraus folgt, dass man soviel
Ruhe nicht brauchen dürfte. Daß man sie aber doch manchmal hier
haben kann, trotzdem doch schon alles hier überfüllt ist und
vom 1. ab die überfülle wahrscheinlich noch einmal überfüllt
werden wird (es wohnen dann Leute in Badekabinen, in jedem Verschlag und
ich habe ein schönes Balkonzimmer) - dafür bin ich sehr dankbar
und deshalb vor allem neben andern Gründen habe ich mich bisher nicht
weggerührt. Jetzt z. B. es ist etwa 7 Uhr abend liege ich im Liegestuhl
am Rand einer dreiwandigen Hütte mit 2 Decken Pelz und Polster, vor
der Hütte ist eine Waldwiese, groß etwa wie ein 1/3 des Zürauer
Ringplatzes, ganz gelb, weiß, lila von bekannten und unbekannten
Blumen, ringsherum alter Fichtenwald, hinter der Hütte rauscht der
Bach. Hier liege ich schon 5 Stunden, heute ein wenig gestört, gestern
und vorgestern ganz allein nur mit der Milchflasche neben mir. Dafür
muß man doch dankbar sein und ich verschweige heute Dinge für
die man nicht dankbar sein muß. übrigens, wenn jeder Nachmittag
so wäre und die Welt mich hier ließe, ich bliebe hier solange,
bis man mich mit dem Liegestuhl forttragen müßte. Inzwischen
kämest Du einmal doch mich besuchen? Was Taus betrifft,
so habe ich einige Bedenken nach dem Vers: "Greif nur
hinein ins volle Menschenleben, wo Du es packst, dort hältst Du
10 Bedenken." Der Oberinspektor hatte dafür keinen Vers, aber
ein kräftiges Wort. Erstens dass es dort auf den nördlichen
Abhängen des Böhmerwaldes zu rauh ist (ich habe mich ja zurückentwickelt
zu einem Kind und nicht zu einem Kind wie Věra ist) zweitens dass
dort nicht genug Ruhe ist, im Wald wohl, aber nicht so nah, dass man
sie mit dem Liegestuhl erreichen könnte drittens dass es zu nahe
beim Spicák ist (jemand ist, um nicht in meiner Nähe zu sein,
statt in die Tatra auf den Spicák gefahren und nun sollte ich auch
dorthin fahren?) viertens habe ich der Badedirektion auf die dringende
Frage ob ich über den 1. Juli hierbleibe (für Juli und August
werden nämlich die Zimmer nur monatsweise abgegeben) gesagt, dass
ich bleibe, was ja auch wahr ist und fünftens müßte ich,
wenn ich über Prag fahre, in die Anstalt gehn, was eine sehr quälende
Ceremonie wäre, denn die Anstalt ist mir (bis auf ihr Geld) ferner
als der Mond aber drohend und vorwurfsvoll. Die Bedenken 4 und 5 und zum
Teil 3 habeich selbst zu überwinden, über die ersten zwei aber
könntest Du mir erst dann etwas sagen, wenn Du dort wohnst. Darum
wäre es am besten mit der Zimmermiete bis dahin zu warten, nicht wahr?
über die Besuche bei Treml und Krätzig sagst Du auffallend wenig,
trotzdem das doch bedeutende Ereignisse waren. Sollten die zwei sehr böse
auf mich sein und sehr Böses gesagt haben? Post war keine dort? Und
sonst etwas Böses?
dass Du Dir von meinem Aussehn keine besonders großartigen Vorstellungen
machst, ist gut, ich habe zwar 8 kg zugenommen (weiter gehts nicht, eher
hinunter) und Fieber habe ich im allgemeinen gar nicht, aber sonst - in
Zürau war mir besser, fast möchte ich sagen, ehe ich herfuhr,
war mir unwissender Weise besser, im Winter freilich war mir viel, viel
schlechter als jetzt; ich erzähle das nur, damit ich mich vorstelle,
ehe ich ankomme und damit, nicht so wie bei der Rückkehr aus Meran,
die Omellette schon fertig ist wenn ich komme.
Und nun sei mir nicht böse und geh zu Vera und ehe Du ihr zu essen
gibst, gib ihr unter den andern Küssen auch einen für mich
Dein
Milý Pepo, hodný jsi byl, vzpomněl jsi na mně,
rozčiloval si mně pohledy na Paříž. O Paříži
musíš mi ještě vypravovat a o strýci a tetičce;
vyřídil jsi jí všechny pozdravy tatínka,
žádný si nevynechal? Na Věru se těším,
zajisté je velmi nadaná, vzdyť již mluví,
jak mi píšeš, hebrejský. Haam jest totíž
hebrejský a znamená: národ; ovšem trochu nesprávně
to slovo vyslovuje, říká se totiž haám,
ne háam. Oprav ji to prosím; navykne-li si chybu v mládí,
mohlo by jí to pak zůstat.
Srdečný pozdrav Tvým rodičům a sestrám
Tvůj F
Ottla, wie ist es mit dem Wackelzahn? Muß er verloren gehn?
Wie ist Vallis Adresse?
D e u t s c h e Ü b e r s e t z u n g
d e s a n J o s e f D a v i d
g e r i c h t e t e n
B r i e f t e i l s:
Lieber Pepa, brav warst Du, hast Dich an mich erinnert, mich mit den Ansichtskarten
aus Paris aufgeregt. Von Paris mußt Du mir noch erzählen und
vom Onkel und von der Tante; hast Du ihr alle Grüße
vom Vater ausgerichtet, keinen weggelassen? Auf Vera freue ich mich, sicher
ist sie sehr begabt, sie spricht ja schon, wie Du schreibst, hebräisch.
Haam ist nämlich hebräisch und bedeutet: Volk; allerdings spricht
sie das Wort etwas unrichtig aus, man sagt nämlich haám,
nicht háam. Bessere ihr das aus, bitte; gewöhnt sie sich
den Fehler in der Jugend an, so könnte er ihr dann bleiben.
Herzlichen Gruß an Deine Eltern und Schwestern
Dein F]
weil meinen Brief auch die Eltern lesen: Ottla wohnte
im gleichen Haus wie die Eltern, die aber jetzt, wie immer im Juni, in
Franzensbad zur Kur waren.
Was Taus betrifft: Ottla hatte dem Bruder vorgeschlagen,
er solle gemeinsam mit ihr und den Kindern Ende Juli in diesen Ort zu einem
gemeinsamen Sommerurlaub fahren. Vgl. Nr. 97 und 100 f.
Greif nur hinein: Anspielung auf Goethes Faust ("Zueignung"):
Greift
nur hinein ins volle Menschenleben!
Ein
jeder lebt's, nicht vielen ist's bekannt,
Und
wo ihr's packt, da ist's interessant.
vom Onkel und von der Tante: Josef Löwy, ein
Bruder von Kafkas Mutter, war mit einer Französin verheiratet und
lebte in Paris.
haám, nicht háam: ein Witz gegenüber
Davids Nationalismus (nie hätte er eine jüdische Erziehung seiner
Kinder geduldet) und Sprachpurismus. Vgl. auch KB 545
Schwestern: Anni und Ella.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at