Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

 

[An Ottla Kafka: Briefkopf: ein Blatt Tatranské-Matliary, klimatischer Höhenkurort]

[Matliary, April 1921]
 


Liebste Ottla und Věruška (? die Mutter schrieb den Namen so, was ist das für ein Nahme? Věra etwa oder Vjera so wie Frau Kopals Tochter heißt? Was für überlegungen giengen der Namensgebung vor?) also ein Weg bitte! Frau Forberger braucht für ihren Bruder den Markensammler

100 Stück 2 Heller Eilmarken

100 ,, 80 ,, Marken } mit dem

100 ,, 90 ,, ,, } Bild von Hus

Laß Dir bitte das Geld von meinem Geld geben man wird es mir hierbezahlen. Diese Marken werden Ende Mai außer Geltung gesetzt, müssen also sofort gekauft werden und sind angeblich nur in Prag zu haben.

Ist der Weg für Euch zwei zu schwer (wie soll man auch mit dem Kinderwagen in die Hauptposthalle hinauffahren?) (Hast Du auch einen schönen Wagen? Ist Frau Weltsch ein wenig neidisch?) dann könnte vielleicht Pepa so gut sein (Ja fährt er denn nicht nach Paris?) Ihm kannst Du dann auch das beiliegende Feuilleton der Brünner Lidové Noviny zur Beurteilung vorlegen; hält er die Sache für gut, natürlich müßte man auch noch mit Dr. Kral sprechen, könnte er sich, könnte er sich vielleicht auch noch erkundigen, wo man Plätze für die Sanatoriumsschiffe bekommen kann und wie teuer das Ganze ist. Mußt ihm nicht gleich sagen, dass es leider in der Nummer vom ersten April stand, es stand ganz ernst drin, ein armer Kranker hier hat es voll Hoffnungen dem Doktor zur Beurteilung gegeben der brachte es mir, ich solle es durchlesen weil er tschechisch nicht versteht und ich war damals vom Darmkatarrh so geschwächt dass ich wirklich 1, 2 Stunden daran glaubte.

Das sind die äußern Anlässe, im übrigen wollte ich Dir schon längst schreiben, aber ich war zu müde oder zu faul oder nur zu schwer, das ist ja kaum zu unterscheiden, auch habe ich immer irgendeine Kleinigkeit, jetzt z. B. wieder einen wilden Abscess, mit dem ich kämpfe. Daß Ihr zwei so flink seid, freut mich, aber Ihr sollt nicht zu flink sein, hier ist eine junge Bauersfrau, mittelkrank, übrigens lustig und lieb und hübsch in ihrer dunklen Tracht mit dem hin und herwehenden Ballerinenrock, die ist von ihrer Schwiegermutter immer zu sehr zur Arbeit angehalten worden trotzdem der Arzt dort immer gewarnt und gesagt hat:

Junge Frauen muß man schonen

so wie goldene Citronen

was zwar nicht ganz verständlich, aber doch sehr einleuchtend ist, weshalb ich mich auch zurückhalte neue Wege zu erfinden.

Immerhin, ein Weg wird notwendig werden, zum Direktor; es ist, um sich die Lippen zu zerbeißen. Am 20. Mai läuft der Urlaub ab (er hat Dich wirklich von der Urlaubsbewilligung verständigt?) was dann? Wohin ich dann fahre oder ob ich etwa noch bis Ende Juni hier bleibe ist eine nebensächlichere überlegung (Seit dem Darmkatarrh der meiner Meinung nach vom Fleisch kam ist es so eingerichtet, dass ein Fräulein in der Küche, ich glaube einen großen Teil ihrer Zeit damit verbringt nachzudenken, was man mir kochen könnte. Beim Frühstück macht man mir Vorschläge inbetreff des Mittagessens, bei der Jause inbetreff des Nachtmahls. Letzthin träumte das Fräulein aus dem Fenster hinaus, ich dachte, sie träumte von ihrer Heimat Budapest, bis sie dann plötzlich sagte: "Ich bin aber wirklich gespannt, ob Ihnen abend das Salatgemüse schmecken wird".) Wie soll ich aber wieder den Urlaub verlangen? Und wo ist ein Ende abzusehn? Es ist sehr schwer. Vielleicht einen Urlaub mit halbem Gehalt verlangen? Ist es leichter, um einen solchen Urlaub zu bitten? Es wäre leicht um Urlaub zu bitten, wenn ich mir und andern sagen könnte, dass die Krankheit etwa durch das Bureau verschuldet oder verschlimmert worden ist, aber es ist ja das Gegenteil wahr, das Bureau hat die Krankheit aufgehalten. Es ist schwer und doch werde ich um Urlaub bitten müssen. Ein Zeugnis werde ich natürlich vorlegen können, das ist sehr einfach. Nun, was meinst Du?

Doch darfst Du nicht glauben, dass man sich hier immerfort mit solchen Gedanken abgibt, gestern habe ich z. B. gewiß den halben Nachmittag mit Lachen verbracht und zwar nicht mit Auslachen, sondern mit einem gerührten, liebenden Lachen. Leider ist dieSache nur anzudeuten, unmöglich in ihrer ganzen Großartigkeit zu vermitteln. Es ist hier ein Generalstabshauptmann, er ist dem Barakenspital zugeteilt, wohnt aber wie manche Offiziere hier unten, weil es oben in den Baraken zu schmutzig ist, das Essen läßt er sich von oben holen. Solange viel Schnee war, hat er ungeheuere Skitouren gemacht, bis nahe an die Spitzen, oft allein, was fast tollkühn ist, jetzt hat er nur 2 Beschäftigungen, Zeichnen und Aquarellmalen ist die eine, Flötenspiel die andere. Jeden Tag zu bestimmten Stunden malt und zeichnet er im Freien, zu bestimmten Stunden bläst er Flöte in seinem Zimmerchen. Er will offenbar immer allein sein (nur wenn er zeichnet, scheint er es gern zu dulden, wenn man zusieht) ich respektiere das natürlich sehr, ich habe bisher kaum 5 mal mit ihm gesprochen, nur wenn er mich etwa von der Ferne ruft oder wenn ich unerwartet irgendwo auf ihn stoße. Treffe ich ihn beim Zeichnen, mache ich ihm paar Komplimente, die Sachen sind auch wirklich nicht schlimm, gute oder sehr gute dilettantische Arbeit. Das wäre alles, wie ich sehe, noch immer nichts Besonderes, ich sage ja und weiß es: es ist unmöglich das Wesen des Ganzen mitzuteilen. Vielleicht wenn ich versuche zu beschreiben wie er aussieht: Wenn er auf der Landstraße spazieren geht, immer hoch aufgerichtet, langsam bequem ausschreitend, immer die Augen zu den Lomnitzer Spitzen erhoben, den Mantel im Wind, schaut er etwa wie Schiller aus. Wenn man in seiner Nähe ist und das magere faltige (zum Teil vom Flötenblasen faltige) Gesicht ansieht, mit seiner blassen Holzfärbung, auch der Hals und der ganze Körper ist so trocken hölzern, dann erinnert er an die Toten (auf dem Bild von Signorelli, ich glaube es ist unter den Meisterbildern) wie sie dort aus den Gräbern steigen. Und dann hat er noch eine dritte ähnlichkeit. Er kam auf die phantastische Idee, mit seinen Bildern in der Haupt-


-----------


nein est ist zu groß, ich meine: innerlich. Kurz, er veranstaltete also eine Ausstellung, der Mediciner schrieb eine Besprechung in eine ungarische Zeitung, ich in eine deutsche, alles im Geheimen. Er kam mit der ungarischen Zeitung zum Oberkellner, damit er es ihm übersetze; diesem war es zu kompliciert, er führte daher in aller Unschuld den Hauptmann zu dem Mediciner, er werde es am besten übersetzen. Der Mediciner lag gerade mit ein wenig Fieber im Bett, ich war bei ihm zu Besuch, so fieng es an, aber genug davon; wozu erzähle ich es, wenn ich es nicht erzähle. übrigens, um wieder an das Vorige anzuknüpfen, Du darfst auch nicht glauben, dass man immerfort lacht, wirklich nicht. Die Rechnung von Taussig lege ich jetzt bei, ferner einen Ausschnitt für Elli, Felix betreffend, auch für die Deine kann es in Betracht kommen nach 10 Jahren, da ist nicht sehr lang, man dreht sich auf dem Liegestuhl einmal von links nach rechts, schaut auf die Uhr und die 10 Jahre sind vorüber, nur wenn man in Bewegung ist, dauert es länger.

Elli und Valli lasse ich natürlich wieder ganz besonders grüßen. Wie meinst Du es? Ich lasse sie grüßen, weil grüßen leicht ist und schreibe ihnen nicht besonders, weil ich Dir schreibe! Am Ende wirst Du sagen dass ich auch Deine Tochter nur grüßen lasse, weil Schreiben schwer ist. Und doch ist Schreiben nicht schwerer, als alles andere, eher ein wenig leichter.

Leb wohl mit

den Deinen  

F


Bitte grüße das Fräulein von mir




Text dieses Briefes bereits in Br 323 ff.


Věruška: Koseform von Věrá, Ottlas am 21. März geborener Tochter.


Frau Weltsch: Irma Weltsch war mit Kafkas Freund Felix Weltsch verheiratet und hatte damals eine to Monate alte Tochter.


das beiliegende Feuilleton: Der als Aprilscherz gemeinte Aufsatz trägt den Titel Léčení tuberkulosy Einsteinovým principem relativity? (Behandlung der Tuberkulose nach dem Einsteinschen Relativitätsprinzip) Auf originelle und für einen Laien nicht ganz einfach zu durchschauende Weise wird hier das von der herkömmlichen Mastkur geforderte Dickerwerden des Patienten mit der von Einstein unter bestimmten Bedingungen behaupteten Vergrößerung der Längenmaße von Körpern in Beziehung gebracht. In einem fingierten Gelehrtenstreit zwischen einem Berliner Professor Dr. med. F. Wergeist und seinem Münchner Kontrahenten Kropfmeier kristallisiert sich die Auffassung heraus, der Kranke, bei dem (wie z. T. bei Kafka) die Mastkur versage, müsse von Triest aus in südöstlicher Richtung sich auf einem Schiff durch die Meere bewegen, um aufgrund physikalischer Gesetze soviel an Umfang zuzunehmen, dass sich die Kavernen in der Lunge schließen. Inzwischen sei in Prag ein Konzern gebildet worden, der in kürzester Zeit einige schwimmende Sanatorien ausrüsten werde.

Stipendien ermöglichen auch weniger begüterten Leuten diese Anti-Tbc-Fahrt gegen die meuchelmörderische Natur mit Hilfe der Natur selbst. Ausführliche Darstellung der Zusammenhänge in KB 547 ff


eine junge Bauersfrau: die in Nr. 100 genannte Frau Galgon, vgl. Br 323.


es ist ja das Gegenteil wahr: so auch Br 309.


ein Generalstabshauptmann: sein Name war Holub (vgl. Br 364); die Kritik ist wieder gedruckt in WB 280.


Signorelli: bezieht sich auf Luca Signorellis Fresko "Das Jüngste Gericht" im Dom zu Orvieto.


Felix betreffend: Nach Kafkas Wunsch sollte der knapp zehnjährige Felix in einer Internatsschule in Hellemu bei Dresden erzogen werden, vgl. dazu seine ausführlichen Briefe an Elli. (Br 339 ff. Vgl. auch Br 354 und 418)


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at