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[An Ottla Kafka]

[Matliary, 16. März 1921]
 


Liebste Ottla, vor paar Tagen fragte mich ein Bekannter ob ich nicht doch vielleicht noch länger hier bleiben wollte. Ich sagte ja, ich möchte noch bleiben und ich habe auch nach Prag so geschrieben, aber ich habe es nur als Spaß geschrieben und gleichzeitig um der Sache jede Möglichkeit des Ernstes zu nehmen, den Abfahrtstermin so festgesetzt, dass in der Zwischenzeit fast unmöglich bei der Anstalt etwas unternommen werden könnte. DerBekannte fragte, was für ein Sinn ein solches Schreiben habe. Mir fiel dazu eine chassidische Geschichte ein, die ich allerdings nur sehr unvollkommen kenne, sie ist etwa so: ein chassidischer Rabbi erzählt, er habe von 2 betrunkenen Bauern in der Schenke eine große Erkenntnis bekommen. Die Bauern saßen dort einander gegenüber, der eine war traurig und der andere tröstete ihn mit Schmeichelworten, bis der Traurige ausrief: "Wie kannst Du behaupten, dass Du mich lieb hast und weißt doch nicht einmal was mir fehlt". Alles war in der Trunkenheit gesagt, der Traurige wußte gar nicht warum er traurig war.

Ich war überzeugt, dass Du nichts machen würdest, vor allem, weil Du nichts machen könntest, deshalb schrieb ich 2 Tage später Max und wollte Dich so umgehn aber Du hast Dich nicht umgehn lassen. Es ist so schwer um Urlaub zu bitten aus vielen Gründen von denen Du ja die meisten kennst. Wenn man vor ihm steht und er nun wieder die so und so vielte Urlaubsbewilligung aussprechen soll, verwandelt er sich fast in einen Engel, man senkt unwillkürlich die Augen, es ist ebenso wunderbar wie widerlich, man könnte vielleicht mit äußerster Zusammenfassung einen Engel auf freiem Feld ertragen, aber in der Direktionskanzlei? Wo man doch gerechterweise immer nur auf die gröbste irdische Weise ausgeschimpft werden sollte. Sein "ja" möchte ich als Elli's Bruder am liebsten mit verstopften Ohren überleben wollen. ähnlich geht es mir sogar gegenüber Deinem geschriebenem Bericht. Das einzige, was mich ein wenig tröstet ist der südafrikanische Plan. Es ist so wie wenn er sagen würde: "ich geben ihm Urlaub in das schöne Land, wo der Pfeffer wächst." Aber das sind Dummheiten, unglaublich gut ist er, ich begreife nicht, warum; bloß die Rücksicht darauf, dass ich sachlich höchst entbehrlich bin, kann doch nicht der einzige Grund dafür sein.


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Ich bin unterbrochen worden, wie jetzt öfters: Der unglückliche Mediciner. Ein solches dämonisches Schauspiel habe ich in der Nähe noch nicht gesehn. Man weiß nicht, sind es gute oder böse Mächte die da wirken, ungeheuerlich stark sind sie jedenfalls. Im Mittelalter hätte man ihn für besessen gehalten. Dabei ist er ein junger Mensch von 21 Jahren groß breit stark, rotbackig - äußerst klug, wahr selbstlos, zartfühlend. Näheres später einmal im Badezimmer in ruhigen Zeiten, wenn das Kindchen schläft. Auf der Hetzinsel ist es freilich schöner als oben in den traurigen Gassen. Aber vor allem ist es ja die Armut die Dich lockt, nur dass man nicht arm ist, wenn man Geld hat und dass man von außen nur in sehr glücklichen großen Ausnahmsfällen die Armut erreichen kann, im allgemeinen ist das was man dann an Stelle der Armut findet, nur Elend. Das nebenbei, aber über der Insel werde ich in Gedanken wachen mit allen Kräften.

Ist der Arzt nur ein Freund, dann mag es angehn, sonst aber ist es unmöglich sich mit ihnen zu verständigen. Ich z. B. habe 3 ärzte, den hiesigen, Dr. Kral und den Onkel. Daß sie verschieden raten, wäre nicht merkwürdig, dass sie gegensätzliches raten (Dr. Kral ist für Injektionen, der Onkel gegen) ginge auch noch an, aber dass sie einander selbst widersprechen, das ist unverständlich z. B. Dr. Kral hat mich wegen der Höhensonne, an der ihm sehr viel lag, hergeschickt, jetzt da sie zu scheinen anfängt, rät er mir das tiefliegende Ples an, weiter, er hat mir sehr zugestimmt, dass ungarische und tschechische Sanatorien deutsche nicht erreichen können und rät mir doch Ples an. Ich bin ja nicht eigensinnig (nur der Qual des Fleischessens, der ich auch jetzt zum Teil ausgesetzt bin, möchte ich gern entgehn) ich gehe auch nachPles, nur möchte ich, ehe ich von hier fortgehe einen Platz irgendwo gesichert haben um nicht wochenlang den Urlaub, den Du mir so großartig verschafft hast, in Prag zu verschwenden. In den nächsten Tagen fahre ich übrigens nach Smokovec und Polianka und lasse mich dort untersuchen. Hat Dr. Kral das Gutachten gelesen, ich habe noch eine Abschrift, die ich ihm schicken könnte. Wandern? Ich weiß nicht. Und Bayern? Das hat mir noch kein Arzt angeraten (trotzdem sich auch ein solcher finden würde) auch nehmen sie dort Fremde nur sehr ungern an und Juden nehmen sie nur auf, um sie zu erschlagen. Das geht nicht.

Das Zeugnis hast Du also, das Gesuch liegt bei, ich schicke es Dir, weil ich eben das Zeugnis mir nicht noch einmal schreiben lassen will. Von den Tschechen ist nur die 18jährige hier und ihre Kenntnisse sind mir verdächtig, sie bewundert nämlich mein Tschechisch. Den Brief schreibe ich vielleicht Deutsch. Aber hast Du denn noch immer Zeit und Lust für anderes als für die Hauptsache? Und ist das recht?

Dein


Elli, Valli schön grüßen. Und das Fräulein


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Ich habe auch noch die Zeugnisabschrift beigelegt, übrigens übersichtlicher angeordnet als das Original, diese Abschrift ist eventuell für Dr. Kral oder den Onkel, zum Gesuch ist natürlich das Originalzeugnis beizulegen. Ich spiele damit, wie wenn es das Gutachten über das Innere einer kostbaren Geige wäre und doch ist da nur Knistern und Knacken u. dgl.




Aus dem Schluß des Briefes ist ablesbar, dass der Direktor Ottla gebeten hatte, Kafka möge noch ein kurzes schriftliches Gesuch einreichen und zusammen mit dem ärztlichen Zeugnis (das Kafka schon an Max Brod geschickt hatte, der es dann Ottla übergab, vgl. die Anmerkungen zu Nr. 94) durch die Schwester in der Anstalt vorlegen lassen. Da dieser Antrag mit dem in D 74 gedruckten und vom 16. März 1921 datierten identisch sein muß, ist wohl auch der vorliegende Brief an diesem Tage geschrieben worden (vgl.: "das Gesuch liegt bei"). Die Anstalt entsprach dann in einem formellen Akt am 25. März Kafkas Gesuch und verlängerte den Erholungsurlaub um 2 Monate bis zum 20. Mai (vgl. D 75, Nr. 97 und 98).


eine Chassidische Geschichte: Sie trägt den Titel Wie der Sassower die Liebe lernte und hat folgenden Wortlaut: "Rabbi Mosche Leib erzählte: Wie man die Menschen lieben soll, habe ich von einem Bauern gelernt. Der saß mit anderen Bauern in einer Schenke und trank. Lange schwieg er wie die andern alle, als aber sein Herz vom Wein bewegt war, sprach er seinen Nächsten an: "Sag du, liebst du mich oder liebst du mich nicht?" Jener antwortete: "Ich liebe dich sehr." Aber er sprach wieder: "Du sagst: ich liebe dich, und weißt doch nicht, was mir fehlt. Liebtest du mich in Wahrheit, du würdest es wissen." Der andere vermochte kein Wort zu erwidern, und auch der Bauer, der gefragt hatte, schwieg wieder wie vorher. Ich aber verstand: das ist die Liebe zu den Menschen, ihr Bedürfen zu spüren und ihr Leid zu tragen." (M. Buben Hundert Chassidische Geschichten, Berlin 1933, S. 41 f.)


einen Engel auf freiem Feld: Anspielung auf die Weihnachtsgeschichte in Lukas 2. Kafka berichtet Max Brod gegenüber, er habe in den ersten Wochen seines am 18. Dezember 1920 beginnenden Aufenthalts in der Hohen Tatra viel in der Bibel gelesen. (Vgl. Br 315)


der südafrikanische Plan: Offenbar hatte der Direktor Ottla vorgeschlagen, Kafka könne nach Südafrika übersiedeln (vgl. auch Br 315 und die Anmerkungen zu Nr. 93); damals war der Aufenthalt in südlichen, trockenen Ländern eines der Hauptmittel im Kampf gegen die Tuberkulose.


Der unglückliche Mediciner: Robert Klopstock, vgl. die Anmerkungen zu Nr. 91 und Br 372.


Hetzinsel: nördlich der Prager Neustadt und Karlin gelegene Moldauinsel, auf der sich zu Kafkas Zeiten auch ein Rummelplatz befand. Die Gassen beziehen sich wahrscheinlich auf den gegenüber der Moldau erhöht gelegenen, von Arbeitern bewohnten Stadtteil Žižkov, wo Ottla, wie ihre Korrespondenz mit David zeigt, gelegentlich spazieren ging. Vgl. auch die Anmerkungen zu Nr. 40.


Dr. Kral: der Hausarzt der Familie Kafka in Prag, über den sich Kafka gelegentlich sehr ungünstig äußerte. (Vgl. z. B. T 265, Br 306, auch Nr. 96 und die Anmerkungen zu Nr. 88) Die von Kafka kritisierte medizinische Position war ihm in einem auf den 9. März datierten Schreiben seines Freundes Max Brod mitgeteilt worden: "Dr. Kral sagte mir, dass Matliary überhaupt nicht das Richtige für dich war und dass er dir stets ein s p e z i f i i s c h e s Lungenheilsanatorium empfohlen hat. Solche gibt es bei Wien, bei Berlin, auch in Schlesien eines und Pleš in Böhmen. Speziell aus dem letzteren kennt Dr. Kral ein paar sehr gute Heilerfolge. Dr. Kral glaubt, dass nur eine konsequente Tuberkulinbehandlung dir helfen kann. Er kennt aus eigener Praxis Fälle, in denen diese Injektionen zu absoluter Heilung geführt haben." (Der Text ist faksimiliert in Max Brod, Franz Kafkas Krankheit, in: Therapeutische Berichte 39, Nr. 264 [1967], S. 270)


der Onkel: Onkel Siegfried, Landarzt in Triesch.


nur sehr ungern an: Kafka hatte ursprünglich vor, statt in Meran irgendwo in Bayern Erholung zu suchen, bekam aber Anfang 1920 keine Einreisebewilligung. (Vgl. Br 268)


um sie zu erschlagen: Anspielung auf das Schicksal der Münchner Räteregierung. Über die Ermordung Gustav Landauers am 2. Mai 1919 hatte Kafka beispielsweise genaue Kenntnisse. (Vgl. Br 275)


Den Brief schreibe ich vielleicht in Deutsch: Vgl. den in den Anmerkungen zu Nr. 94 zitierten Dankesbrief an den Direktor und Nr. 98.


die Hauptsache: Fünf Tage später wurde Ottlas Tochter Věrá geboren.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at