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[An Ottla Kafka]

[Matliary, 3. Januarwoche 1921]
 


Liebste Ottla um Zeit zu sparen, schreibe ich im Liegestuhl. Zuerst eine Bitte. Kein »Weg«. Wege hast Du vielleicht nicht mehr gern. Es handelt sich um einen Brief an den Direktor den ich in schönes Tschechisch gebracht haben möchte. Ich werde ihn jetzt zusammenstellen:

Sehr geehrter Herr Direktor

Jetzt bin ich schon über 4 Wochen hier, habe schon einen gewissen überblick und erlaube mir Ihnen sehr g. H. D. kurz über mich zu berichten. Untergebracht bin ich gut (Tatr. Matl. Villa Tatra) diePreise sind zwar viel höher als in Meran, aber für hiesige Verhältnisse doch mäßig. Mein Leiden und seine Besserung kann ich im allgemeinen nur am Gewicht, Fieber, Husten und an der Atemkraft erkennen. Das Aussehn und Gewicht hat sich sehr gebessert, ich habe - kg zugenommen und werde wohl weiter zunehmen. Das Fieber tritt immer seltener auf, oft tagelang nicht und ist ganz gering, allerdings liege ja ich meistens und vermeide jede Anstrengung. Der Husten ist noch kaum geringer geworden, aber wohl leichter, er schüttelt mich nicht mehr. Hinsichtlich der Atemkraft schließlich hat sich noch kaum etwas gebessert. Es ist eben eine sehr langwierige Sache, der Arzt behauptet, ich müsse hier ganz gesund werden, sehr hoch muß man natürlich solche Behauptungen nicht einschätzen. Im ganzen fühle ich mich hier besser als in Meran und hoffe mit bessern Ergebnissen zurückzukommen. übrigens werde ich vielleicht nicht dauernd hierbleiben; gegen das Frühjahr zu soll es hier sehr lebhaft werden, wie man mir sagt und da ich Ruhe fast mehr brauche als Essen und Luft würde ich dann wahrscheinlich in ein anderes Sanatorium nach Nový Smokovec übersiedeln. Indem ich Ihnen sehr geehrter Herr Direktor nochmals für die Güte danke, mit der sie mir den Urlaub gewährt haben, bleibe ich mit herzlichen Grüßen

Ihr sehr ergebener


Das ist also der Brief. Du mußt ihn richtig verstehn, er ist zwar im wesentlichen richtig, aber doch absichtlich etwas düster gehalten, ich sehe nämlich, daß ich länger werde bleiben müssen, wenn ich der Sache irgendwie gründlicher beikommen will, anders wird es kaum gehn, sonst komme ich wieder nach Prag, zwar besser als aus Meran, aber doch unfähig einen vollen menschenwürdigen Atemzug zu tun. Darauf soll der Brief den Direktor vorläufig leise vorbereiten. (Was das Fieber betrifft, so ist das nicht Prager Fieber, denn hier messe ich unter der Zunge, was 3 bis 4 Zehntel höhere Ergebnisse hat, hienach hätte ich in Prag unaufhörlich Fieber gehabt, während ich das Prager Fieber hier überhaupt nicht mehr habe) Auch hinsichtlich Smokovec siehst Du daß ich nicht hartnäckig bin, vorläufig aber ist es hier viel besser, verschiedene Berichte haben mir das noch bestätigt, das einzige was mich von hier vertreiben könnte, wäre Lärm. Schließlich hat der Brief natürlich noch einen Zweck und deshalb ist er so ausführlich, Herr Fikart soll etwas Großes zum Einlegen haben. (Schon Mittagessen-Läuten! Der Tag ist so kurz. Man mißt 7mal die Temperatur und hat kaum Zeit das Ergebnis in den Bogen einzutragen, schon ist der Tag zuende)

Für die Übersetzung wirst Du, denke ich, nicht genügen, Dein Mann wir mir die Freundlichkeit tun müssen, zumindest Deine Übersetzung durchzusehn, ich vergesse hier Tschechisch. Es kommt vor allem darauf an, daß es klassisches Tschechisch ist, also gar nicht auf Wörtlichkeit (fällt Dir etwas dazu ein, kannst Du es auch einfügen) nur auf Klassicität.

Von mir schreibst Du viel, von Dir wenig, mach es nächstens umgekehrt. Denk nur, wenn ich länger hierbleibe, werde ich ja das kleine Ding nicht einmal aufwachen sehn. Darüber hätte ich noch einiges zu schreiben, aber es ist zu spät, nächstens. Herzliche Grüße Deinem Mann, grüß auch besonders Elli und Valli. Auch das Frl. natürlich.

Dein F.



daß ich länger werde bleiben müssen: Kafka am 13. I. 1921 an Max Brod: »übrigens sind meine Pläne (hinter dem Rücken der Anstalt) viel großzügiger als Du denkst: bis März hier, bis Mai Smokovec, über den Sommer Grimmenstein, über den Herbst ich weiß nicht . . . Es tut mir der Eltern wegen, jetzt auch Deinetwegen und schließlich auch meinetwegen (weil wir dann in dieser Hinsicht einig wären), leid, daß ich nicht gleich anfangs nach Smokovec gefahren bin, da ich aber nun schon hier bin, warum soll ich einen schlechten Tausch riskieren und nach kaum 4 Wochen von hier fort gehn, wo sich alle sehr anständig bemühn, mir alles zu geben, was ich nötig habe.« (Br. 291 f., vgl. Nr. 88)


ich vergesse hier Tschechisch: in der von Ungarndeutschen und Slowaken bestimmten Hohen Tatra. Um sich vor seinem Direktor keine Blöße zu geben (vgl. die Anmerkungen zu Nr. 79), sollte Josef David, Sprachpurist, der etwa Nachlässigkeiten der Aussprache in seiner Umgebung nicht duldete (vgl. KB 539 und Nr. 99), das Gesuch formvollendet übersetzen. Diese Fassung, in die dann Kafka, um nicht als unglaubwürdig zu erscheinen, nachträglich einige kleine orthographische Fehler einsetzte (vgl. Nr. 90), ist in D 74 veröffentlicht. Das Schreiben ist auf den 27. I. 21 datiert. Deswegen heißt es dann im endgültigen Text »schon länger als 5 Wochen«, und seine Gewichtszunahme gibt Kafka mit »über 4 kg« an (vgl. Br 296). Eine deutsche Rückübersetzung des tschechischen Antrags in: K. Hermsdorf, Briefe des Versicherungsangestellten Franz Kafka, in: Sinn und Form 9 (1957), S. 643 f. Vgl. Nr. 103 und 115.


das kleine Ding: Ottlas Tochter Verá wurde am 27. März 1921 geboren.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at