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Milena Jesenská an Max Brod

[Januar/Februar 1921]


In tschechischer Sprache geschrieben; übersetzt von Max Brod.


Ich danke Ihnen für Ihre Liebenswürdigkeit. Inzwischen bin ich etwas zur Besinnung gekommen. Ich kann wieder denken. Es ist mir dadurch nicht etwa besser geworden. dass ich Frank nicht schreiben werde - ist doch absolut selbstverständlich. Wie könnte ich denn! Wenn es wahr ist, dass die Menschen auf der Erde eine Aufgabe zu erfüllen haben, so habe ich diese Aufgabe neben ihm sehr schlecht erfüllt. Wie könnte ich so unbescheiden sein und ihm schaden, wenn ich ihm nicht zu helfen vermocht habe?

Was seine Angst ist, das weiß ich bis in den letzten Nerv. Sie existierte auch schon immer vor mir, solange er mich nicht kannte. Ich habe seine Angst eher gekannt, als ich ihn gekannt habe. Ich habe mich gegen sie gepanzert, indem ich sie begriffen habe. In den vier Tagen, in denen Frank neben mir war, hat er sie verloren. Wir haben über sie gelacht. Ich weiß gewiß, dass es keinem Sanatorium gelingen wird, ihn zu heilen. Er wird nie gesund werden, Max, solange er diese Angst haben wird. Und keine psychische Stärkung kann diese Angst überwinden, denn die Angst verhindert die Stärkung. Diese Angst bezieht sich nicht nur auf mich, sondern auf alles, was schamlos lebt, auch beispielsweise auf das Fleisch. Das Fleisch ist zu enthüllt, er erträgt nicht, es zu sehen. Das also habe ich damals zu beseitigen vermocht. Wenn er diese Angst spürte, hat er mir in die Augen gesehen, wir haben eine Weile gewartet, so als ob wir keinen Atem bekommen könnten oder als ob uns die Füße wehtäten, und nach einer Weile ist es vergangen. Es war nicht die geringste Anstrengung nötig, alles war einfach und klar, ich habe ihn über die Hügel hinter Wien geschleppt, ich bin vorausgelaufen, da er langsam gegangen ist, er ist hinter mir hergestampft, und wenn ich die Augen schließe, sehe ich noch sein weißes Hemd und den abgebrannten Hals und wie er sich anstrengt. Er ist den ganzen Tag gelaufen, hinauf, hinunter, er ist in der Sonne gegangen, nicht ein einziges Mal hat er gehustet, er hat schrecklich viel gegessen und wie ein Dudelsack geschlafen, er war einfach gesund, und seine Krankheit war uns in diesen Tagen etwas wie eine kleine Erkältung. Wäre ich damals mit ihm nach Prag gefahren, so wäre ich ihm die geblieben, die ich ihm war. Aber ich war mit beiden Füßen unendlich fest mit dieser Erde hier zusammengewachsen, ich war nicht imstande, meinen Mann zu verlassen und vielleicht war ich zu sehr Weib, um die Kraft zu haben, mich diesem Leben zu unterwerfen, von dem ich wußte, dass es strengste Askese bedeuten würde, auf Lebenszeit. In mir aber ist eine unbezwingbare Sehnsucht, ja eine rasende Sehnsucht nach einem ganz anderen Leben, als ich es führe und als ich es wohl je führen werde, nach einem Leben mit einem Kinde, nach einem Leben, das der Erde sehr nahe wäre. Und das hat also wohl in mir über alles andere gesiegt, über die Liebe, über die Liebe zum Flug, über die Bewunderung und nochmals die Liebe. Mag man übrigens darüber was immer sagen, so kommt doch nur eine Lüge heraus. Diese ist vielleicht noch die kleinste. Und dann war es eben schon zu spät. Dann ist dieser Kampf in mir zu deutlich sichtbar geworden und das hat ihn erschreckt. Gerade das ist es ja, wogegen er sein ganzes Leben lang ankämpft, von der andern Seite her. Bei mir hat er sich ausruhen können. Aber dann hat es begonnen, ihn auch bei mir zu verfolgen. Gegen meinen Willen. Ich habe ganz gut gewußt, dass etwas geschehen ist, was nicht mehr beseitigt werden kann. Ich war zu schwach, als dass ich das hätte tun und erfüllen können, wovon ich gewußt habe, dass es einzig und allein ihm geholfen hätte. Es ist dies meine Schuld. Und auch Sie wissen, dass es meine Schuld ist. Das, was man auf Franks Nicht-Normalität schiebt, gerade das ist sein Vorzug. Die Frauen, die mit ihm zusammengekommen sind, waren gewöhnliche Frauen und haben nicht anders zu leben gewußt als eben Frauen. Ich glaube eher, dass wir alle, die ganze Welt und alle Menschen krank sind und er der einzige Gesunde und richtig Auffassende und richtig Fühlende und der einzige reine Mensch. Ich weiß, dass er sich nicht gegen das Leben wehrt, sondern nur gegen Diese Art von Leben da wehrt er sich. Hätte ich es zustande gebracht, mit ihm zu gehen, so hätte er mit mir glücklich leben können. Aber das weiß ich erst heute, all dies. Damals war ich ein gewöhnliches Weib wie alle Weiber auf der Welt, ein kleines, triebhaftes Weibchen. Und daraus ist seine Angst entstanden. Sie war richtig. Ist es denn möglich, dass dieser Mensch etwas fühlt, was nicht richtig wäre? Er weiß von der Welt zehntausendmal mehr als alle Menschen der Welt. Diese seine Angst war richtig. Und Sie irren, Frank wird mir nicht von selbst schreiben. Es gibt nichts, was er mir schreiben könnte. Es gibt in der Tat kein einziges Wort, das er mir in dieser Angst sagen könnte. Daß er mich liebt, weiß ich. Er ist zu gut und schamhaft, als dass er aufhören könnte, mich zu lieben. Er würde das als eine Schuld ansehen. Er hält ja immer sich für den, der schuldig ist und der schwach ist. Und dabei gibt es auf der ganzen Welt keinen zweiten Menschen, der seine ungeheure Kraft hätte: diese absolute unumstößliche Notwendigkeit zur Vollkommenheit hin, zur Reinheit und zur Wahrheit. So ist es. Bis zum letzten Blutstropfen weiß ich, dass es so ist. Ich kann es mir nur nicht ganz zu Bewußtsein bringen. Wenn das geschehen wird, wird es schrecklich sein. Ich renne durch die Gassen, sitze ganze Nächte lang am Fenster, manchmal hüpfen mir die Gedanken wie die kleinen Funken beim Messerschleifen, und das Herz hängt mir wie an einem Angelhaken, wissen Sie, an einem ganz dünnen Häkchen, und das reißt so, mit solch einem ganz dünnen, entsetzlich scharfen Schmerz.

Mit meiner Gesundheit bin ich ganz am Ende angelangt, und wenn mich etwas noch oben hält, so geschieht es gegen meinen Willen, und es ist wohl dasselbe, was mich bis hierher getragen hat, etwas sehr Unbewußtes, eine unwillkürliche Liebe zum Leben. Neulich habe ich irgendwo am andern Ende von Wien plötzlich solche Geleise gefunden, wissen Sie, stellen Sie sich kilometerlange Gassen vor, wie eine würfelförmige Grube - und unten Geleise, rote Lichter, Lokomotiven, Viadukte, Waggons, solch ein schwarzer grauenhafter Organismus war das, ich bin daneben gesessen und es war, als ob etwas atmete. Ich dachte, dass ich verrückt werden muß vor lauter Leid, Sehnsucht und schrecklicher Liebe zum Leben. Ich bin so allein, wie Stumme allein sind, und wenn ich Ihnen da von mir spreche, so deshalb, weil ich die Worte schon auskotze, sie jagen gänzlich gegen meinen Willen hervor, da ich schon nicht mehr schweigen kann. Verzeihen Sie.

Ich werde Frank nicht schreiben, keine Zeile, und was weiterhin geschehen wird, weiß ich nicht. Im Frühling komme ich nach Prag und werde Sie besuchen. Und wenn Sie mir von Zeit zu Zeit schreiben, wie es ihm geht - ich gehe täglich zur Post, ich kann es mir, nicht abgewöhnen -, werde ich sehr glücklich sein.

Ich danke Ihnen nochmals M. P.


Noch eine Bitte: eine sehr lächerliche. Meine Übersetzung der Bücher "Urteil", "Verwandlung", "Heizer", "Betrachtung", wird bei Neumann erscheinen - Edition "Červen" - in der gleichen Ausstattung wie Charles Louis Philippes "Bubu", Sie kennen das Buch doch wohl. -

Nun, ich bin damit fertig - Hirn und Herz hat es mir in den letzten Monaten gefressen, es war gräßlich, so verlassen zu sein und an seinen Büchern zu arbeiten aber Neumann will von mir, dass ich "für das tschechische Lesepublikum einige Worte über ihn voraussende". Jesus Christus, ich soll über ihn für die Leute schreiben -? Und ferner: ich habe einfach nicht die Fähigkeit dazu. Wollen Sie mir das nicht tun? Ich weiß nicht, ob Sie nicht politisch etwas dagegen haben Cerven ist kommunistisch, aber die Buchreihe ist parteilos. - Neumann gibt das Büchlein so herzlich und gern heraus und freut sich auf das Erscheinen - freilich würde Ihr Name mit dabei sein - stört Sie das? Wo nicht, bitte ich Sie darum. Etwa drei oder vier Seiten, ich werde sie übersetzen und als Vorwort beifügen. Ich habe einmal so etwas von Ihnen gelesen - eine Einleitung zu Laforgue - eine sehr sehr schöne Sache. Wollen Sie das für mich machen? Ich hätte Freude. Das Buch muß prachtvoll herauskommen, nicht wahr. Die Übersetzung ist gut. Und die Einführung von Ihnen wäre bestimmt gut. Bitte, wenn Sie keine politischen Bedenken haben, machen Sie das für mich. Freilich muß es eine Art Information für die tschechischen Leser sein. Aber schreiben Sie es nicht für die Leute, sondern so für sich selbst wie diese Laforgue-Vorrede. Sie sind dort, wo Sie lieben, aufrichtig und sehr hellseherisch. Und dann ist das, wie Sie sagen, sehr sehr schön. Es müßte sehr bald sein, Max, und ich bitte, tun Sie das für mich. Gern würde ich mit diesem nach allen Kräften vollkommenen Buch vor die Augen der Welt treten - wissen Sie, ich habe das Gefühl, als müsse ich etwas verteidigen, etwas rechtfertigen. Ich bitte Sie darum.

Und sagen Sie F. nichts. Wir werden ihn überraschen, einverstanden? Vielleicht-vielleicht wird er ein wenig Freude daran haben.




dass ich Frank nicht ... Milena hatte Kafka trotz gegenteiligen Versprechens einen letzten Brief nach Matliary geschrieben; in einem Brief an Brod erwähnt er, "vor einer Woche" eine entsprechende Nachricht bekommen zu haben. Vgl. "Briefe", S. 299.


In den vier Tagen... : Milena bezieht sich auf die gemeinsam verbrachten vier Tage in Wien. Vgl. Brief vom [4. Juli 1920], S. 82.


ich habe ihn . . .geschleppt: Vgl. Brief vom [20. Juli 1920], S. 133.


Edition "Červen": Milenas Plan zerschlug sich. Der von ihr beabsichtigte Band ist nie erschienen.


Laforgue: Jules Laforgue, "Pierrot der Spaßvogel", übersetzt von Max Brod und Franz Blei (Leipzig: Axel Juncker, 1909)

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at