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An Robert Klopstock

[Prag, November 1921]
 

Lieber Robert, ich verstehe den Brief vielleicht nicht ganz; heißt es, daß die Engländer auch zu einer Kur in der Tatra kein Geld geben, trotzdem doch der Professor, soweit ich mich erinnere, Ihnen fast die Zusage machte, daß Sie in der Tatra bleiben können? Und wollen Sie nun sofort nach Prag, in die Stadt? An einem warmen Nachmittag durch die innere Stadt zu gehn und sei es noch so langsam, ist für mich so, wie wenn ich in einem lange nicht gelüfteten Zimmer wäre und nicht einmal mehr die Kraft hätte, das Fenster aufzustoßen, um endlich Luft zu bekommen. Und hier ständig sein? Im Seziersaal? Im Winter, in geheizten, ungelüfteten Zimmern? Und dies ohne Übergang, gleich aus der reinen Bergluft? Meinen Sie es so, daß Sie gleich kommen wollen? . . .

Des Mädchens Brief ist schön, ebenso schön wie abscheulich, das sind die verführerischen Nachtstimmen, die Sirenen haben auch so gesungen, man tut ihnen unrecht, wenn man glaubt, daß sie verführen wollten, sie wußten, daß sie Krallen hatten und keinen fruchtbaren Schoß, darüber klagten sie laut, sie konnten nicht dafür, daß die Klage so schön klang.

Mit Mädchenbriefen sind Sie also gut versehn. Wer Heddy ist, weiß ich gar nicht. Armer Glauben Aber vielleicht beschleunigt es eine günstige Entwicklung, das Mädchen muß sich doch eigentlich seiner annehmen, sich also gegen den Vater stellen, dabei ihre eigenen Bedenken gegen die Hauptsache zurückstellen u. s. f.

Die Selbstwehr ist seitdem noch nicht erschienen, die Kongreßzeitung geht manchmal zu mir, manchmal nach Matlar, sie war bis auf die letzte Nummer (aber auch die würde Sie kaum interessieren, es handelt sich um Vorschläge für intensive Bodenbearbeitung) nicht lesenswert, trockene Auszüge der Reden.

Die Kinder machen mir Freude. Gestern z. B. saß die vorletzte Nichte (ihr Bild habe ich Ihnen einmal gezeigt) auf dem Fußboden, ich stand vor ihr. Plötzlich bekam sie aus äußerlich unerkennbarem Grund große Angst vor mir und lief zu meinem.Vater, der sie aufs Knie nehmen mußte. Die Augen hatte sie voll Tränen und zitterte. Da sie aber sehr sanft und zart und freundlich ist, beantwortete sie doch, durch des Großvaters Arm allerdings auch schon ein wenig gesichert, alle Fragen, also z. B., daß ich der Onkel Franz bin, daß ich brav bin, daß sie mich sehr gern hat udgl., aber immerfort zitterte sie dabei noch, vor Angst.

Herzliche Grüße

Ihr K


Letzte Änderung: 22.01.2011werner.haas@univie.ac.at


Arbeitskopie:

Eigenh. Brief mit U. ("K"). 4 Seiten (70 Zeilen in Bleistift auf 2 eh. num. Blatt, weitere 3V2 Zeilen unlesbar gestrichen). Mit horizontaler und vertikaler Knickspur und unbedeutenden Randläsuren. 4to (14,4:20 cm). [Prag], [November 1921] (Dat. nach Br).

Lieber Robert, ich verstehe den Brief vielleicht
nicht ganz; heisst es dass die Engländer
auch zu einer Kur in der Tatra kein
Geld geben, trotzdem doch der Professor,
soweit ich mich erinnere, Ihnen fast die
Zusage machte, dass Sie in der Tatra
bleiben können? Und wollen Sie nun
sofort nach Prag, in die Stadt?
X An einem warmen Nach-
mittag durch die innere Stadt zu gehn
und sei es noch so langsam, ist fur
mich so, wie wenn ich in einem lange
nicht gelüfteten Zimmer wäre und nicht
einmal mehr die Kraft hätte, das
Fenster aufzustossen, um endlich Luft
zu bekommen. Und hier ständig sein?



Im Seziersaal? Im Winter, in geheizten, un-
gelüfteten Zim-
mern? Und dies ohne Über-
gang gleich aus der reinen Bergluft?
Meinen Sie es so, dass Sie gleich kommen
wollen? Dann fange ich natürlich
gleich beim Prof. Münzer zu arbeiten an,
zunächst also ohne Empfehlungsbrief.
Des Mädchens Brief ist schön,
ebenso schön, wie abscheulich, das
sind die verführerischen Nachtstimmen;
die Sirenen haben auch so gesungen,
man tut ihnen unrecht, wenn man
glaubt, dass sie verfuhren wollten,
sie wussten dass sie Krallen hatten
und keinen fruchtbaren Schoss, darüber
klagten sie laut, sie konnten nicht
dafür dass die Klage so schön
klang.


Mit Mädchenbriefen sind Sie also
gut versehn. Wer Heddy ist, weiss ich
gar nicht. Armer Glauber. Aber vielleicht
beschleunigt es eine günstige Entwick-
lung, das Mädchen muss sich doch
eigentlich seiner annehmen, sich also
gegen den Vater stellen, dabei ihre
eigenen Bedenken gegen die Hauptsache
zurückstellen u.s.f.
Die Selbstwehr ist seitdem noch
nicht erschienen, die Kongresszeitung
geht manchmal zu mir, manchmal
nach Matlar, sie war bis auf die
letzte Nummer (aber auch die <würde Sie kaum> interessieren
es handelt sich um Vorschläge für inten-
sive Bodenbearbeitung) nicht lesenswert,
trockene Auszüge der Reden.
Die Kinder machen mir Freude.


Gestern z. B. sass die vorletzte Nichte
(ihr Bild habe ich Ihnen einmal gezeigt)
auf dem Fussboden, ich stand vor ihr.
Plötzlich bekam sie aus äusserlich
unerkennbarem Grund grosse Angst
vor mir und lief zu meinem Vater,
der sie aufs Knie nehmen musste. Die
Augen hatte sie voll Tränen und
zitterte. Da sie aber sehr sanft und
zart und freundlich ist, beantwortete
sie <doch>, durch des Grossvaters Arm allerdings
auch schon ein wenig gesichert, alle Fragen,
also z. B. dass ich der Onkel Franz bin,
dass ich brav bin, dass sie mich sehr
gern hat udgl., aber immerfort zitterte
sie dabei noch, von Angst
Herzliche Grüsse
Ihr K


Original: Inlibris Verlag
Quelle Text: Briefe 1902 - 1924, S. 351; Kafkas letzter Freund, S. 27 - 28
Quelle Anmerkungen: Kafkas letzter Freund, S. 28 - 29

1] heisst es dass die Engländer. in Br: heißt es, daß die Engländer
2] trotzdem doch der Professor [. . .} Ihnen fast die Zusage machte: n. e.
3] X: 3 ½ Zeilen im Original durch Schraffur unlesbar gestrichen
4] ohne Übergang gleich aus der reinen Bergluft: in Br: ohne Übergang, gleich aus der reinen Bergluft
5J Dann fange ich [. . .} Empfehlungsbrief Fehlt in Br; zu Egmont Münzer vgl. Nr. 1, Anmerkung 4, sowie Nr. 3, 11, 13, 25 und 29
6] Des Mädchens Brief ist schön: n. e.
7] sie wussten dass sie Krallen hatten: in Br: sie wußten, daß sie Krallen hatten
8] sie konnten nicht dafür dass die Klage: in Br: sie konnten nicht dafür, daß die Klage
9] wer Heddy ist: n. e.
10] Armer Glauber: zu Dr. Glauber vgl. Nr. 2, Anmerkung 14, sowie Nr. 7, 10, 11 und 27, Anmerkung 2
1 1 ] Die Selbstwehr ist seitdem noch nicht erschienen, die Kongresszeitung geht manchmal zu mir: vgJ. Nr. 3, Anmerkung 16
12] aber auch die interessieren es handelt: in Br: aber auch die würde Sie kaum interessieren, es handelt
13] die vorletzte Nichte [ . .}: Da Kafkas bis dahin letzte Nichte Vêra, die Tochter von Ottla und Josef David,. am 27. März 1921 geboren wurde (vgl. BO 241), kommt als vorletzte Nichte nur die im Jahr zuvor geborene Hanne, die Tochter von Elli und Karl Hermann, in Frage.
14] also z.B. dass ich der Onkel Franz bin: in Br: also z. B, daß ich der Onkel Franz bin
15] zitterte sie dabei noch, von Angst: in Br. zitterte sie dabei noch, vor Angst