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An Robert Klopstock

[Prag, 2. September 1921]
 

Lieber Robert, die Fahrt war sehr bequem, ich erwähne es nur wegen der Menge traumhaft ineinander spielender Zufälle, die mir einen guten Platz verschafften. Der Zug war ganz überfüllt, zuerst konnte man noch hie und da auf einem Koffer sitzen, später konnte man kaum mehr stehn. In Vrutky sollten zwei leere Waggons angeschlossen werden, dort würde also Platz sein. In Vrutky steige ich aus, laufe zu den Waggons, alles überfüllt, außerdem alte schmutzige Wagen, laufe wieder zu meinem Waggon zurück, finde ihn nicht gleich, steige in einen andern ein, es ist ja gleichgültig, alles ist voll. In diesem Waggon drücken sich unter andern drei Frauen an den Wänden herum, sie fahren aus Lomnitz nach Prag, eine von ihnen, eine alte Lehrerin, kenne ich flüchtig aus Matlar, wo sie einmal Ing. G., da anderswo kein Platz war, zu meinem Tisch geführt hat. Jetzt im Waggon mache ich ihnen einige kleine Dienste. Die Lehrerin, mit der vereinigten wütenden Alte-Frauen- und Lehrerinnen-Energie beschließt von Abteilung zu Abteilung zu gehn und sich doch einen Platz zu erzwingen. Tatsächlich findet sie in einer entfernten I. Klasse Abteilung einen Platz, durch irgend einen Zufall wird dort auch noch ein zweiter Platz frei, jetzt sind also zwei Frauen untergebracht, die dritte zieht auch mit ihnen. Gleich darauf geschieht in jenem Coupá folgendes :Von den übrigen vier Reisenden sind zwei Eisenbahnunterbeamte oder dergl., sie überreden mit großer Mühe den Kondukteur (da sie selbst nur Anspruch aufzweite Klasse haben), das Coupá für ein solches zweiter Klasse zu erklären, dieses Verwandlungsrecht hat der Kondukteur in Ausnahmefällen. Endlich stimmt er zu, dadurch sind aber die andern Passagiere, da sie auf erste Klasse Anspruch haben, gekränkt und verlangen ein leeres Coupá erster Klasse, der Kondukteur verschafft es ihnen, dadurch sind wieder zwei Plätze frei, einer für die dritte Frau und einer - da sich die Frauen für die Dienste dankbar zeigen wollen - für mich, sie rufen mich durch den überfüllten Gang, ich weiß gar nicht wie, denn sie kennen nicht nur meinen Namen nicht, sondern die Lehrerin kann sich, wie sich später herausstellt, gar nicht erinnem, wann sie zuerst mit mir gesprochen hat. Jedenfalls höre ich, wie sie mich rufen und übersiedle hin, gerade klebt der Kondukteur eine große 2 an die Glastür. Von der Reisenahrung waren das Beste die Pflaumen, ausgezeichnete Pflaumen.

Einige Veränderungen in Prag, z. B. der Tod eines alten merkwürdigen Onkels. Er ist vor ein paar Monaten gestorben vor ein paar Tagen habe ich ihm die erste Karte aus Matlar geschickt: "Herzliche Grüße vor baldigem Wiedersehn".

Auf den ersten Anhieb hat sich herausgestellt, dass ich durch Verwandte eine sehr gute Verbindung mit Prof. Münzer habe. Wenn überhaupt die Möglichkeit einer derartigen Anstellung besteht, wird sie für Sie zu erreichen sein, gar wenn man es rechtzeitig - also z. B. jetzt für Feber - vorzubereiten anfängt. Schicken Sie mir nur irgendwelche Dokumente, den Brief des Professors udgl.

Vielleicht fahre ich noch für drei Monate in ein deutsches Sanatorium.

Alles Gute und Dank für alles Gute!

Ihr K




Fahrt: Bericht über die Reise Kafkas von Matliary, wo er zehn Monate zugebracht hatte, nach Prag.


Anstellung: Kafka wollte durch Professor Münzer einen Posten für Klopstock beschaffen oder zumindest seine Immatrikulation an der Prager Universität erwirken.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at