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An M. E.

[Matliary, Ende März 1921]
 

Liebe Minze,

zunächst und allererst, was ist das für ein "zartes Fieber", mit dem Sie täglich aufwachen? Ist es wirkliches Fieber, mit dem Thermometer gemessen? Und in Ahlem war doch wohl ein Schularzt, haben Sie mit ihm gesprochen? Und mit dem Arzt in Barth? Ich weiß nicht, ohne weiter zu fragen, hatte ich seit jenem Bildchen mit dem Mistkarren ein großes Vertrauen zu Ihrer Gesundheit, so kräftig waren Sie dort, so viel gesünder als in Schelesen - und auch in Schelesen waren Sie doch im Ganzen gesund; wie schnaufte ich hinter Ihren langen Schritten her - schienen Sie dort. Und jetzt zartes Fieber? Aber es gibt kein zartes Fieber, es gibt nur abscheuliches Fieber. "Je eher und schöner das Leben vergeuden, desto besser" schreiben Sie. Mag es so sein, wenn Sie wollen. Aber glauben Sie mir, mit Fieber wird das Leben nicht "schön" vergeudet, ja nicht einmal "eher". Ich bin hier nicht in einem eigentlichen Sanatorium, in einem Sanatorium mag der Eindruck noch viel stärker sein, aber auch hier sehe ich, wenn ich mich umschaue, nichts von schöner und schneller Vergeudung, man vergeudet nicht, man wird vergeudet. Und dagegen kann man sich mit Ihrer frischen Jugend wunderbar wehren und das müssen Sie. Vorausgesetzt, dass überhaupt ein Angriff vorliegt, was ich nicht weiß und gern nicht glauben will. Aber wenn wirkliches Fieber da ist, regelmäßig 37º oder darüber, mit dem Thermometer im Mund gemessen, dann müssen Sie sofort zum Arzt, das ist doch selbstverständlich. Dann fort mit Robinson, vorläufig wenigstens, auch Robinson wurde, als er einmal Fieber hatte, von einem Schiff abgeholt und erst als er wieder zuhause gesund geworden war, durfte er wieder wegfahren und wieder Robinson werden. In seinem Buch hat er dann dieses Kapitel gestrichen, weil er sich geschämt hat, aber um seine Gesundheit war er jedenfalls sehr besorgt, und was der große Robinson durfte, wird wohl auch die kleine Minze dürfen.

Sonst haben Sie, Minze, Recht, dass ich übertreibe, wenn ich Ihr jetziges Leben gar so schön finde, aber es geht nicht anders. Der Philosoph Schopenhauer hat zu dieser Frage irgendwo eine Bemerkung gemacht, die ich hier nur sehr beiläufig wiedergeben kann, etwa so "Diejenigen, welche das Leben schön finden, haben es scheinbar sehr leicht zu beweisen, sie brauchen nichts weiter zu tun, als die Welt etwa von einem Balkon aus zu zeigen. Wie es auch sein mag, an hellen oder trüben Tagen, immer wird die Welt, das Leben schön sein, die Gegend, ob mannigfaltig oder einförmig, immer wird sie schön sein, das Leben des Volkes, der Familien, des Einzelnen, ob es leicht oder schwer ist, immer wird es merkwürdig und schön sein. Aber was ist damit bewiesen? Doch nichts anderes, als dass die Welt, wenn sie nichts weiter wäre als ein Guckkasten, wirklich unendlich schön wäre, aber leider ist sie das nicht, sondern dieses schöne Leben in der schönen Welt will auch wirklich durchgelebt werden in jeder Einzelheit jedes Augenblicks und das ist dann gar nicht mehr schön, sondern nichts als Mühsal". So etwa Schopenhauer. Auf Ihren Fall angewendet, würde das heißen: Es ist zwar schön und merkwürdig und hat einen Schein von Großartigkeit, dass Minze dort im kalten Norden ihr Brot selbst verdient und am Abend des schweren Tages in Pferdedecken eingewickelt auf dem Strohsack liegt und Lisl nebenan schläft schon und draußen schneit es und es ist naß und kalt und morgen kommt wieder ein schwerer Tag - das alles ist schön vom Balkon einer Tatra-Villa aus,

aber am Abend mit dem Blick in die Petroleumlampe neben sich ist es gar nicht mehr schön und fast ein wenig zum Weinen

so ähnlich wollte ich damals weiter schreiben, aber dann wurde ich unterbrochen, nicht durch Sturm und Bettlägerigkeit diesmal, im Gegenteil, es waren jetzt 7 vollkommene Tage mit unaufhörlicher Sonne, mit Nacktliegen im Wald knapp neben tiefem Schnee, mit Ohne-Mantel-Gehn und ein wenig freierem Atmen, aber Menschen haben mich unterbrochen mit ihrem Leid, so als wenn ich helfen könnte. Für solche Dinge gilt diese kleine ewige Geschichte: Grillparzer wurde einmal in eine Gesellschaft eingeladen, in der er mit Hebbel zusammenkommen sollte. Grillparzer weigerte sich aber hinzugehn, denn "Hebbel fragt mich immer über Gott aus und ich kann ihm nichts sagen und dann ist er böse".

Inzwischen kam Ihr zweiter Brief, ein wenig fröhlicher, wenn ich nicht irre. Trotz der verletzten Hand. (Ja mit den Gartenmessern umzugehn ist nicht leicht, ich habe immer lieber die Bäume verletzt als mich. Wenn ich mich aber doch geschnitten hatte, tröstete man mich: "Das ungeschickte Fleisch muß weg".) Und zum Doktor gehn Sie; der sieht doch wohl nicht bloß die Hand an. 51 kg, wenig, wenig.

Was die Ostseebäder anlangt, gewiß, sie sind schön, ich kenne flüchtig nur eines im äußersten Westen: Travemünde, dort bin ich einen heißen Tag lang traurig und unentschlossen herumgewandert in dem Gedränge der Badenden, es war etwa einen Monat vor Kriegsausbruch - aber jetzt hinzufahren, Minze, das wäre doch, von allem andern abgesehn, ganz gegen unsere Verabredung, laut der wir einander doch niemals wiedersehen wollten. Wobei allerdings das "niemals" ebenso übertrieben ist, wie Ihr Robinsontraum. Ich wünsche Ihnen zwar auch einen großen Garten und blauen Himmel und Süden


Liebe Minze, wieviel Tage sind seit dem Vorigen vergangen, ich kann sie gar nicht zählen, und was seither geschehen ist, ich kann es gar nicht sagen. Wahrscheinlich gar nichts, ich kann mich z. B. nicht erinnern, in der ganzen Zeit ein eigentliches Buch gelesen zu haben, dagegen dürfte ich oft in einem vollständigen Dämmerzustand gelegen haben, ähnlich dem, wie ich ihn als Kind an meinen Großeltern angestaunt habe. Die Tage vergingen dabei, von mir unbeachtet, sehr schnell, zum Schreiben war keine Zeit, die Karte an die Eltern mußte ich mir abzwingen und Ihnen, Minze, zu schreiben, war mir so, wie wenn ich mich anstrengen sollte, Ihnen über ganz Deutschland hinweg die Hand entgegenzustrecken, was doch auch unmöglich ist.

Das Ergebnis der Zeit ist übrigens für mich, dass ich, während ich schon am 20. März in Prag sein wollte, noch länger hier bleibe. Der Doktor hier droht mir mit allem Bösen, wenn ich fahre, und verspricht mir alles Gute, wenn ich bleibe, so bleibe ich also noch einige Zeit. Aber lieber als hier auf dem Balkon oder in der Waldliegehalle zu liegen (die Wälder sind noch durch Schnee versperrt), würde ich irgendwo in einem Garten arbeiten "im Schweiße des Angesichtes", denn dazu sind wir bestimmt, das fühlt im Grunde jeder, der es nicht tut. Sie tun es, wohl Ihnen! Es ist wahrscheinlich in vielem nicht schön, wie sollte es das auch sein, es ist doch die Erfüllung eines Fluches, aber dem Fluch ausweichen ist noch viel schlimmer.

Hoffentlich scheint über Ihrer Arbeit die Sonne so wunderbar, wie über meinem Liegen (seit 2 Tagen kann ich nachmittag nackt auf meinem Balkon liegen, ganz nackt wie ein Kind unter den Augen einer unsichtbaren großen Mutter) und die Ostseebäder sind schön, gewiß, aber sehen will ich Sie erst in Ihrem eigenen Garten (mag er im Süden sein an einem See, ich werde die Reise zum Gardasee oder zum Lago maggiore nicht scheuen), mit Ihrem Mann und Kindern, eine ganze Reihe lang, um wieviel schöner ist das als die schönsten Wolfshunde. Übrigens, warum muß es ein europäischer See sein, auch der Kinereth- oder der Tiberias-See sind schön. Die beiliegenden Ausschnitte - ihrer Bedeutung entsprechend zerlesen - handeln ein wenig davon.

Das kleine Buch von Fontane hat Sie vielleicht hinsichtlich des Ostseelebens enttäuscht, auch muß man vielleicht Fontane auch sonst kennen, um diese Erinnerungen gut zu verstehn, besonders seine Briefe, vor allem aber weiß ich nicht genau, wo ich dieses eigentliche Ostseeleben gefunden habe, in, diesen Erinnerungen oder in einem Roman von ihm, überdies weiß ich den Titel dieses Romans nicht bestimmt, "Cecile" oder "Unwiederbringlich" oder anders, ich weiß nicht, ich könnte das erst in Prag feststellen.

Im April Geburtstag? Aber Sie sind doch gar nicht wetterwendisch, wie kamen Sie in den April hinein? Den wievielten?

Den Vertrag lege ich bei, er klingt klug und nicht so grausam wie ich fürchtete.

Und nun will ich bald etwas uber das Fieber hören.

Ihr Kafka


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at