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[Stempel: Tatranské Matliary (Ende Mai1921)]

[An:] Herrn Dr. Max Brod Praha-hrad Tiskový odbor presidia ministerské rady

[Abs.:] Dr Kafka Tatranské Matliary Slovensko


Liebster Max - meine Schuld ist schon so groß, so viel habe ich von Dir bekommen, so viel hast Du für mich getan und ich liege da steif und still, gequält bis ins Innerste von dem Mann, der in den Nebenzimmern Öfen aufstellt und dabei jeden Tag, auch an Feiertagen, um 5 Uhr früh mit Hämmern, Gesang und Pfeifen anfängt und es bis 7 Uhr abends ununterbrochen fortsetzt, dann ein wenig ausgeht und vor 9 Uhr sich schlafen legt, was ich zwar auch tue, aber ohne einschlafen zu können, weil die andern Leute eine andere Zeiteinteilung haben und ich wie der Vater von Matliary bin, der erst einschlafen kann, wenn auch das letzte quietschende Stubenmädchen im Bett ist. Und natürlich, es ist nicht gerade dieser Mann, der mich stört (das Stubenmädchen hat ihm heute mittag, trotzdem ich sie mit Gewalt zurückgehalten habe - was will ich im Liegestuhl Faulender einem ausgezeichneten Arbeiter verbieten? - das Pfeifen verboten und nun hämmert er bis auf einzelne Vergessenheitsunterbrechungen ganz ohne Pfeifen und verflucht mich wahrscheinlich, aber, um die Wahrheit zu sagen, angenehmer ist es mir doch), wenn er aufhören wird, ist jedes lebende Wesen hier bereit und fähig, ihn abzulösen und wird es tun und tut es. Aber es ist auch nicht der Lärm hier, um den es sich handelt, sondern der Lärm der Welt und nicht einmal dieser Lärm, sondern mein eigenes Nichtlärmen.

    Doch auch abgesehn von der schon lange dauernden Unausgeschlafenheit wollte ich Dir auch vor der Begegnung mit M. nicht mehr schreiben, ich verstricke mich immer ohnmächtig in Lügen wenn ich über sie schreibe und ich wollte Dich - nicht so sehr Deinetwegen, als meinetwegen - nicht mehr beeinflussen. Nun hast Du sie also gesehn. Auf welche Weise sie mit ihrem Vater versöhnt ist, kann ich nicht verstehn, darüber weißt Du wohl auch nichts. Daß sie nicht schlecht aussieht, glaubte ich zu wissen. Strba liegt etwa am entgegengesetzten Ende der Tatra (der höchste Ort, aber kein eigentliches Sanatorium). Verzeih mir, was ich Dir hier auferlegt habe, es geschah in der ersten besinnungslosen Aufregung über ihren damaligen Brief, allerdings, ich hätte Dich auch nach Überlegung darum gebeten. Daß sie Dir gleich von ihrem Brief erzählen würde, daran zweifelte ich nicht, sie hatte aber ein Recht, von mir zu verlangen, über den Brief zu schweigen. Was Du über den "überflüssigen" Brief schreibst und darüber, "dass es auf diese Art nicht mehr weitergehe", scheint doch darauf hinzudeuten, dass sie von mir nichts mehr wissen will. (Ich verstricke mich in Lügen, wie ich sagte.) "Die Urteile ins Gesicht", ja, das ist das Wesentliche, über das man sich, als Außenstehender natürlich, gegenüber einem Mädchen von ihrer Art, zuerst klar sein muß. Du schmeckst das Falsche heraus, ich konnte es nicht, trotzdem ich lauerte. Dabei übertreibe ich den Wahrheitsgehalt solcher Urteile nicht, sie sind nicht fest, ein Wort beschwichtigt sie, ein Schilf unter einem solchen Steuermann wollte ich nicht sein, aber mutig sind sie, groß, und führen zu den Göttern, wenigstens den olympischen.

    Ich glaube auch nicht, dass ich Dir von M's Verhältnis zu Deiner Frau etwas Ausdrückliches gesagt habe. Auch dieses Urteil M's ist öfters begrenzt und fast widerrufen worden. An einen Zusammenhang mit Lisl Beer kann ich mich nicht erinnern, wohl aber an eine Bemerkung M's, wonach sie einmal mit Haas und Deiner Frau beisammen war, Deine Frau von Dir erzählte und diese bestimmte Art demütiger Bewunderung M. so hassenswert erschien. Sei hier nicht so streng zu M., Max. Es ist ja hier ein schwieriger Fall, den ich oft durchdacht habe. Versuche die Freundinnen Deiner Frau zusammenzuzählen, die Du für zweifellose Freundinnen hältst, und Du wirst vielleicht nur solche Freundinnen finden, welche Deine Frau im Grunde mißachtet. Ich kann darüber freier sprechen als irgendjemand. In einem gewissen gesellschaftlichen, sozialen Sinn (gerade in jenem Sinn, welcher für die Vereinsamung Deiner Frau entscheidend ist) bin ich Deiner Frau ungemein ähnlich (was aber nicht Nähe bedeutet), so ähnlich, dass man bei flüchtigem Hinsenn sagen könnte, dass wir gleich sind. Und diese Ähnlichkeit beschränkt sich, wie ich glaube, nicht einmal nur auf das heutige Ergebnis, sondern umfaßt auch die ursprüngliche Anlage, die Anlage guter, strebender, aber irgendwie befleckter Kinder. Nun besteht aber zwischen uns doch ein mit meinem bloßen wissenschaftlichen Auge zwar nicht wahrnehmbarer, aber jedenfalls tatsächlicher Unterschied, eine Kleinigkeit, ein wertloses Nichts, das aber doch hinreicht, um mich, ohne dass ein anderes soziales Material vorliegen würde, jemandem, der wie z. B. M. Deine Frau zu hassen behauptet, liebenswürdig zu machen. Freilich hat sich auch Deine Frau infolge der Ehe weiter ins Leben vorgewagt als ich, niemandem wird es einfallen, meinen Wert an meiner Lebensstellung zu messen, und wem es einfallen wird, wird es nicht glauben.

    Mit Staša mag M. wieder ausgesöhnt sein, das hat sich im Laufe des Halbjahres auch ein oder zweimal wiederholt, übrigens hat Staša mir gegenüber einen scharfen Blick gehabt, gleich bei der ersten Begegnung hat sie erkannt, dass ich nicht verläßlich bin. Doch haben solche Frauengeschichten niemals großen Eindruck auf mich gemacht oder vielmehr allzugroßen. Wenn ich solche Geschichten höre, wie: sie ist prachtvoll, er ist nicht prachtvoll, er liebt sie, sie liebt ihn, sie ist untreu, er müßte sich vergiften - das alles in einem einheitlichen, tief überzeugten, leidenschaftlichen Geiste vorgetragen, dann kommt in mir unwiderstehlich ein gefährliches, nur scheinbar knabenhaftes, in Wirklichkeit lebenzerstörendes Gefühl herauf.

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    Ich wollte sagen: alles das kommt mir [bricht ab]

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    Der erste ruhigere Tag nach einer wohl 14tägigen Marterzeit. Dieses einigermaßen Außerhalb-der-Welt-Leben, das ich hier führe, ist an sich nicht schlechter als ein anderes, es liegt kein Grund vor, sich zu beklagen; schreit mir aber in dieses Außerhalb-der-Welt die Welt grabschänderisch herein, komme ich außer Rand und Band, dann schlage ich mit der Stirn wirklich an die doch immer nur angelehnte Tür des Wahnsinns. Eine Kleinigkeit genügt, um mich in diesen Zustand zu bringen, es genügt, dass unter meinem Balkon mit dein mir zugekehrten Gesicht ein junger halbfrommer ungarischer Jude im Liegestuhl liegt, recht bequem gestreckt, die eine Hand über dein Kopf, die andere tief im Hosenschlitz und immer fröhlich den ganzen Tag Tempelmelodien brummt. (Was für ein Volk!) Es genügt irgendetwas derartiges, anderes kommt eiligst dazu, ich liege auf meinem Balkon wie in einer Trommel, auf die man oben und unten, aber auch von allen Seiten losschlägt, ich verliere den Glauben daran, dass es noch irgendwo auf der Oberfläche der Erde Ruhe gibt ich kann nicht wachen, nicht schlafen, selbst wenn einmal ausnahmsweise Ruhe ist, kann ich nicht mehr schlafen, weil ich zu sehr zerrüttet bin. Ich kann auch nicht schreiben und Du machst mir Vorwürfe, aber ich kann ja nicht einmal lesen. Da habe ich vor 3 Tagen (mit Hilfe des Mediziners) eine schöne, nicht allzu entfernte Waldwiese gefunden, es ist eigentlich eine Insel zwischen 2 Bächen, dort ist es still dort bin ich in 3 Nachmittagen (vormittag sind dort freilich Soldaten) soweit gesundet, dass ich heute dort sogar flüchtig eingeschlafen bin; das feiere ich. heute durch einen Brief an Dich.

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    Du fährst an die Ostsee, wohin? Letzthin las ich von vielen schönen billigen Ostseebädern. Thiessow, Scharbeutz, Nest, Haffkrug, Timmendorfer Strand, Niendorf waren empfohlen, keines teuerer als 30-40 M täglich. Mit wem fährst Du? Mit der Frau, allein oder mit der andern? Ich denke auch manchmal an die Ostsee, aber es ist mehr Träumen als Denken.

    Deine Schwester hat mir freundlich geschrieben und die Salbe habe ich bekommen. Ich freue mich sehr sie zu haben, im Winter war die Plage arg (jetzt schützen mich die Luftbäder), doch kann die Salbe, wenn sie wirklich so kräftig wirkt und Furunkel verhindert, leicht das werden, was man eine Geißel der Menschheit nennt, denn dem Höllenhund kann man durch Salben die Zahl der Köpfe nicht verhindern, nur vermehren.

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    Zu dem vorigen wollte ich noch sagen, dass mir alle diese Frauengeschichten komisch, anmaßend, wichtigtuerisch vorkommen, er barmungslos lächerlich, verglichen mit der kläglichen Körperlichkeit die da spricht. Sie spielen ihre Spiele, aber was kümmert es mich.

    Dabei habe ich auch hier ein zwei kleine Spaziergänge mit einem Mädchen am Morgen im Wald gemacht, von denen immerhin gilt, was man von den Tafeln der Könige sagt: sie bogen sich unter der Fülle. Und es geschah gar nichts, kaum ein Blick, das Mädchen merkte vielleicht gar nichts, und es ist auch nichts und schon lange vorüber und wird auch, ganz abgesehn davon, dass die Konstellation sehr günstig ist, nichts im Gefolge haben. Im Übrigen ist es kein besonderes Wunder, wenn


[2 Randbemerkungen:]

Ich schicke vorläufig dieses, morgen die Fortsetzung.

Ich schreibe Dir so bruchstückweise, die Schlaflosigkeit - ohne aktuelle Ursache, nur Erbe früherer Zeiten - läßt es nicht anders zu.

Dank für das Telegramm.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at