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[Prag]
Liebster Franz,
Ohne die postalische Kausalität zu verstehen, bekam ich knapp nach
einander zwei Briefe von dir. Ich kann es nur so erklären, dass
vielleicht einer meiner Briefe dich sehr verspätet erreicht hat.
Beiliegend ein paar Kritiken von mir. Du bist ja
mein einziger Zeitungs-Leser (dh.der einzige, dessen Reaktion mir bekannt
wird). Ferner lege ich eine Kritik Oskars bei, wie du gewünscht hast.
Sein Verhältnis zur Pr. Pr. ist noch nicht ganz
fest. Doch gegen Mitarbeit im künstlerischen Teil ist nichts einzuwenden,
wie uns nach sehr langen Diskussionen klar zu werden schien. Ich habe auch
noch keine Stimme dagegen gehört. In die Redaktion ist u. a. Paul
Adler (Hellerau) eingetreten, lebt jetzt hier. Gelegentliche Beiträge
von Hesse, Hofmannsthal, Werfel, Salus u. a. standen in dem Blatt. Wenn
ich nicht irre, auch etwas aus dem "Landarzt"
mit Hinweis auf das Buch. - Das Blatt scheint gar keine politische Wirkung
zu haben. Es ist also sehr gegen den Willen seiner Gründer nichts
als eine Unterstützung deutscher und jüdischer Autoren, eine
neue Resonanz für deutsches Theater und Konzertwesen u.s.f. Komisch,
nichtwahr? - Für Baum kam überdies diese Unterstützung gerade
im rechten Moment. Er ist seither viel ruhiger geworden. - Klavierstunden
gibt er weiter, doch war das immer sehr wenig.
Auch bei Felix ist wieder die Sache ruhiger geworden.
Vor allem hat dazu eine neue "Perle" von Dienstmädchen
beigetragen. - Aber dass er kein philosophisches Werk mehr schaffen
wird, wenn sich die Situation nicht total ändert, ist mir leider klar.
Im Übrigen handelt sich's nur um mehr minder Bequemlichkeit. Felix
ist übrigens jetzt ganz von politischer Arbeit, Zion. erfüllt,
während ich Reservestellungen bezogen habe. Bis zum Herbst. - Öfters
haben wir Besuch von Berliner Zionisten, auch jungen Mädchen, herrlichen
starken Geschöpfen. Wie Großes hätte Felix leisten können,
an Seite eines dieser harmonischen Wesen. - Nebenbei: Felice hat eine Tochter.
- Dies ohne andern als lokalen Zusammenhang (Berlin) mit dem Vorigen. -
Was du über dein Befinden sagst, ist doch
sehr erfreulich. Echt hypochondrisch schiebst du es aufs Wetter. Als ob
das ein Gegenargument wäre. Wenn das Wetter deinen Krankheitsherd
zur Verkalkung bringt, so hat es eben als Heilfaktor seine Schuldigkeit
getan. Nicht mehr, nicht minder. - Locopansalbe wird dir wahrscheinlich
von Zwickau aus zugehen, wenn Ausfuhr möglich ist. - Diese nervösen
Lärmstörungen kenne ich zu gut. Sie sind natürlich nicht
Sache des Ohres. Jetzt, wo mein Herz wieder einverstanden ist mit seinem
Schicksal, schreibe ich unter Klavierbegleitung - und ein Bau mir gegenüber,
der täglich neue Sorten von Großgeräusch erfindet, der
mir früher einfach Gesundheit und Besinnung geraubt hätte, er
ist mir eine Quelle von Vergnügen, ich transformiere z. B. das Schneiden
von Holzbalken in eine Brettsäge mitten im Walde und habe auf diese
Art einen Gratisausflug. Faktisch habe ich diesen Sommer noch keinen Wald
gesehen, so bin ich in Arbeit. Roman, eine Übersetzung (Janáček:
Lieder -eben fertiggeworden) und Abends Theater und Kritik. - Leider
habe ich dich nicht da. Mit dir würde ich doch einmal auf die Sophieninsel
gehen oder ins Korunabad, würde dir so gern vorlesen, - denn bei den
andern habe ich so wenig davon. Elsa ist noch am besten. Baum macht ungeschickte
Bemerkungen, die mich stören, die er dann widerruft, die nur schlecht
ausgedrückt, durchaus nicht unbegründet und oft sogar förderlich
sind. Felix widerstrebt dem Irrationalen oder läuft nach Kapitelschluß
weg, um die Elektrische zu erreichen. - So, nun habe ich die Freunde schön
beklatscht. Es ist natürlich nicht ganz ernst gemeint. Und sie helfen
mir sehr in vielem. Nur im Vergleich zu dir - wenig.
Was den Mediziner anlangt, so hat mir Pick gestern
(auf Urgenz) versprochen, den Brief ganz sicher durch eine verläßliche
Privatperson über Reval zu befördern. Der offizielle Weg ist
ungangbar, den du angibst. - Die Empfehlung an die Kultusgemeinde Prag
ist wohl wertlos. Wichtig wäre eine an den Prager Oberrabbiner Dr
Brody, denn der arbeitet aktiv. Als Haupterleichterung kommt unsere jüdische
mensa academica in Betracht. Ferner das Joint (Frl.
Gellner), doch heißt es immer wieder, dass dieses seine Arbeit
einstellt. Bis dahin wird aber eine Ersatz-Institution geschaffen sein.
- Schreibe recht bald - deinem Max
Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.
Pr. Pr.: Prager Presse.
aus dem "Landarzt": Ein Nachdruck von Kafkas "Auf der Galerie" (aus Ein Landarzt) war am 3. April 1921 in der Sonntags-Beilage der Prager Presse erschienen.
Janáček: Lieder: Es handelt sich um Janáčeks "Vier Männerchöre" 346 (Čtveřice mužských sborů, Brünn 1886). Die zweite Auflage (Prag 1924) enthält neben dem tschechischen Text der Lieder die deutsche Übersetzung von Brod ("Drohung", "Ach Liebe!", "dass wieder Krieg ist" und "Deine schönen Augen").
das Joint: Das "American Jewish Joint Distribution Committee", eine 1914 in New York gegründete Hilfsorganisation zur Unterstützung von bedürftigen Juden außerhalb der USA (die heute noch tätig ist).
Letzte Änderung: 17.4.2009 | werner.haas@univie.ac.at |