Voriger Eintrag | Jahresübersicht | Indexseite | Nächster Eintrag |
[Stempel: Tatranské Matliary, 13.1.21; Ankunftstempel; Praha, 17.1.21]
[An:] Koschel Praha Hauptpost postlagernd
[Abs.:] Dr Kafka Tatranské Matliary Villa Tatra Slovensko
Liebster Max, in den letzten 3 Tagen war ich nicht sehr geeignet Matliary zu verteidigen oder überhaupt nur zu schreiben. Eine Kleinigkeit. Ein Gast, ein junger Mensch, krank aber fröhlich, singt ein wenig unter meinem Balkon oder unterhält sich auf dem Balkon über mir mit einem Freund (dem Kaschauer, der übrigens zu mir rücksichtsvoll ist wie eine Mutter zum Kind) - also diese Kleinigkeit geschieht und ich winde mich auf meinem Liegestuhl fast in Krämpfen, das Herz kann es nicht ertragen, in die Schläfen bohrt sich jedes Wort ein, die Folge dieser Nervenzerrüttung ist, dass ich auch in der Nacht nicht schlafe. Ich wollte heute wegfahren, nach Smokovec, sehr ungern, denn alles hier entspricht mir, auch mein Zimmer ist sehr ruhig, neben mir, unter mir, über mir niemand; was ich von Unbefangenen über Smokovec höre, bestätigt meine Abneigung (kein Wald ringsum, hier überaus schöner, vor 2 Jahren alles durch einen Cyklon umgeworfen, die Villen und Balkone liegen an einer städtischen staubigen belebten Straße) trotzdem hätte ich natürlich fahren müssen, aber man hat jetzt eine Einrichtung hier getroffen, welche mir von morgen ab voraussichtlich Ruhe verbürgt: statt der zwei Freunde oben eine stille Dame. Sollte es nicht sein, fahre ich gewiß. Übrigens fahre ich in einiger Zeit gewiß, schon aus meiner "natürlichen" Unruhe heraus.
Ich erwähne das alles erstens deshalb, weil ich davon so voll bin, als bestünde die Welt aus nichts anderem als dem Balkon über mir und seiner Unruhe, zweitens um Dir zu zeigen, wie unberechtigt Deine Vorwürfe gegen Matliary sind, denn Balkonunruhe (der Husten der Schwerkranken, das Läuten der Zimmerglocken!) ist in gedrängt vollen Sanatorien noch viel stärker und kommt nicht nur von oben, sondern von allen Seiten, einen andern Vorwurf kann ich aber gegen Matliary überhaupt nicht anerkennen (es wäre denn die allerdings nicht sehr große Eleganz meines Zimmers, aber das ist doch kein Einwand) und drittens erwähne ich es, um Dir meine augenblickliche innere Situation zu zeigen. Sie erinnert ein wenig an das alte Österreich. Es ging ja manchmal ganz gut, man lag am Abend auf dem Kanapee im schön geheizten Zimmer, das Thermometer im Mund, den Milchtopf neben sich und genoß irgendeinen Frieden, aber es war nur irgendeiner, der eigene war es nicht. Eine Kleinígkeit nur, ich weiß nicht, die Frage des Trautenauer Kreisgerichtes war nötig und der Thron in Wien fing zu schwanken an, ein Zahntechniker, das ist er nämlich, studiert halblaut auf dem oberen Balkon und das game Reich, aber wirklich das ganze, brennt mit einemmal.
Aber genug von diesen endlosen Dingen.
__________
Ich glaube nicht, dass wir in jener Hauptsache wesensverschieden sind, wie Du es darstellst. Ich würde es so fassen: Du willst das Unmögliche, mir ist das Mögliche unmöglich. Ich bin vielleicht nur eine Stufe unter Dir, aber auf der gleichen Treppe. Dir ist das Mögliche erreichbar; Du hast geheiratet; hattest keine Kinder, nicht weil es Dir unmöglich war, sondern weil Du nicht wolltest; Du wirst auch Kinder bekommen, hoffe ich; Du hast geliebt und bist geliebt worden, nicht nur in der Ehe, aber es hat Dir nicht genügt, weil Du das Unmögliche wolltest. Vielleicht habe ich aus dem gleichen Grund das Mögliche nicht erreichen können, nur traf mich dieser Blitz einen Schritt früher als Dich, noch vor der Erreichung des Möglichen und das ist allerdings ein großer Unterschied, aber ein Wesensunterschied ist es kaum.
Das Berliner Erlebnis scheint mir z. B. deutlich unmöglich. Daß es sich um ein Stubenmädchen. handelt, setzt Dich gewiß nicht herab, im Gegenteil es zeigt, wie ernst Du das Verhältnis nimmst. Dieses Mädchen stand doch äußerlich ganz fern dem, was Dich in Berlin bezaubert hat, alles, was Du sonst erlebtest, mußte eigentlich das Mädchen hinabdrücken und trotzdem konnte sie sich infolge des Ernstes, mit dem Du das Verhältnis hinnahmst, so stark behaupten. Aber - nun sei mir nicht böse wegen dessen, was ich jetzt sage, vielleicht ist es dumm und falsch, vielleicht habe ich diesen Teil Deines Briefes unrichtig gelesen, vielleicht bin ich auch durch das inzwischen Geschehene widerlegt - nimmst Du so ernst, wie Du Dein Verhältnis zu dem Mädchen nimmst, auch das Mädchen selbst? Und heißt es nicht, etwas, was man nicht ganz ernst nimmt, ganz ernst lieben wollen, eben das Unmögliche wollen, so wie wenn einer, der einen Schritt nach vorn und dann wieder einen Schritt zurückgemacht hat, doch entgegen jedem Wirklichkeitsbeweis 2 Schritte nach vorn gemacht haben will, da er doch eben 2 Schritte und nicht weniger gemacht hat. Ich denke dabei nicht an das, was Du von den Äußerungen des Mädchens sagst, das verträgt sich noch vielleicht sehr gut mit dem Ernst, aber wie kommt es, dass Du gar nicht daran denkst, was Du für das Mädchen bedeutest. Ein Fremder, ein Gast, ein Jude sogar, einer von den Hunderten, denen das schöne Stubenmädchen gefällt, einer dem man den zugreifenden Ernst einer Nacht zutrauen kann (und wenn er nicht einmal diesen Ernst hat), aber was kann denn mehr sein? Eine Liebe über Länder hinweg? Briefeschreiben? Auf einen sagenhaften Februar hoffen? Diese ganze Selbstauslöschung verlangst Du? Und dass Du Treue (das verstehe ich sehr gut, wirklich tiefe Treue) dem Verhältnis bewahrst, nennst Du auch Treue zum Mädchen? Ist das nicht ein Unmögliches über dem andern? Das Unglück, das darin liegt, ist allerdings schrecklich, das kann ich von der Ferne sehn, aber die Kräfte, die Dich in das Unmögliche treiben - seien es auch nur Kräfte des Verlangens -, sind sehr groß und können nicht verschwunden sein, wenn Du geschlagen zurückkommst, sondern halten Dich aufrecht für jeden neuen Tag.
Du sagst, dass Du meine Stellung nicht verstehst. Sie ist, wenigstens von dem Allernächsten aus, sehr einfach. Du verstehst sie nur deshalb nicht, weil Du etwas Gutes oder Zartes in meinem Verhalten voraussetzest, dieses aber allerdings nicht finden kannst. Ich verhalte mich in dieser Sache zu Dir etwa wie ein Primaner der achtmal durchgefallen ist, zu einem Oktavaner, der vor dem Unmöglichen, der Matura steht. Ich ahne Deine Kämpfe, Du aber, wenn Du mich, den großen Menschen, über eine kleine Multiplikationsaufgabe gebeugt siehst, kannst das nicht verstehn. "Acht Jahre!" denkst Du, "das muß ein äußerst gründlicher Mensch sein. Noch immer multipliziert er. Aber selbst wenn er noch so gründlich ist, jetzt müßte er es schon können. Infolgedessen verstehe ich ihn nicht". Aber dass mir der mathematische Verstand überhaupt fehlen könnte oder dass ich nur aus bleicher Angst nicht schwindle oder - das Wahrscheinlichste - dass ich aus Angst jenen Verstand verloren haben könnte -, das alles fällt Dir nicht ein. Und doch ist es nichts als gemeinste Angst, Todesangst. So wie wenn einer der Verlockung nicht widerstehen kann, in das Meer hinauszuschwimmen, glückselig ist, so getragen zu sein, "jetzt bist Du Mensch, bist ein großer Schwimmer" und plötzlich richtet er sich auf, ohne besonders viel Anlaß und sieht nur Himmel und Meer und auf den Wellen ist nur sein kleines Köpfchen und er bekommt eine entsetzliche Angst, alles andere ist ihm gleichgültig, er muß zurück und wenn die Lunge reißt. Es ist nicht anders.
Nun vergleiche aber noch Deines und Meines - oder vergleiche lieber meines nicht, aus Rücksicht - mit den alten großen Zeiten. Das einzige wirkliche Unglück war Unfruchtbarkeit der Frauen, aber selbst wenn sie unfruchtbar waren, erzwang man noch die Fruchtbarkeit. Unfruchtbarkeit in diesem Sinn - notwendiger Weise mich als Mittelpunkt genommen - sehe ich gar nicht mehr. Jeder Schoß ist fruchtbar und grinst nutzlos in die Welt. Und wenn man sein Gesicht versteckt, so ist es doch nicht, um vor diesem Grinsen sich zu schützen, sondern um sein eigenes nicht sehn zu lassen. Daneben bedeutet der Kampf mit dem Vater nicht viel, er ist ja nur ein älterer Bruder, auch ein mißratener Sohn, der bloß kläglich versucht, seinen jüngeren Bruder eifersüchtig im entscheidenden Kampf zu beirren, mit Erfolg allerdings. - Jetzt aber ist es schon ganz finster wie es sein muß für die letzte Blasphemie.
Ich lese nochmals, was Du über Matliary sagst, und sehe, dass
ich es doch noch einzelweise beantworten muß:*
Du kennst die Slowakei aber nicht die Tatra, hier
waren doch die Sommerfrischen der Budapester, sie sind also rein und die
Küche ist gut. Ich gebe zu, dass für uns ein deutsches oder
österreichisches Sanatorium ein wenig behaglicher wäre, aber
das sind doch nur Gefühle der ersten Tage, man gewöhnt sich bald
ein, einer meiner Vorzüge übrigens, in dem Du mich (auch von
zuhause aus tun sie es) also beirren willst.
Ich nehme die Sache so ernst, wie Du es, Max, verlangst,
ich sehe sogar die Antithese noch schlimmer, es ist nicht Leben oder Tod,
sondern Leben oder Viertel-Leben, Atmen oder nach Luft schnappend langsam
(nicht viel schneller als eine wirkliches Leben dauert) sich zuendefiebern.
Da ich das so sehe, kamst Du mir doch glauben, dass ich nichts unterlassen
werde, was ich tun kann, um es halbwegs zum Guten zu wenden.
Warum soll aber der Arzt - ? Ich habe in Deinem
Brief den betreffenden Satz gleich beim ersten Lesen vor Schrecken mit
dem Bleistift unleserlich zu machen gesucht. Am Ende ist es doch gar nicht
so dumm, was er sagt, und gewiß nicht dümmer als was die andern
sagen. Es ist sogar biblisch; werden schöpferischen Lebensodem nicht
voll aufnehmen kann, der muß in allem kranken.
dass ich ohne Fleisch kuriert werden kann,
habe ich allerdings bewiesen, in Zürau, wo ich fast kein Fleisch gegessen
habe, und in Meran, wo man mich wegen meines guten Aussehens nach den ersten
vierzehn Tagen nicht wiedererkannte. Allerdings fuhr dann der Feind dazwischen,
aber den hält Fleischessen nicht ab und zieht Nichtfleischessen nicht
an, der kommt jedenfalls.
Ich habe mich hier sehr gut erholt und wenn nicht
auch hier manches mit M. nicht Zusammenhängendes
gestört hätte, wäre ich noch weiter.
Es tut mir der Eltern wegen, jetzt auch Deinetwegen
und schließlich auch meinetwegen (weil wir dann in dieser Hinsicht
einig wären) leid, dass ich nicht gleich anfangs nach Smokovec
gefahren bin, da ich aber nun schon hier bin, warum soll ich einen schlechten
Tausch riskieren und nach kaum 4 Wochen von hier fort gehn, wo sich alle
sehr anständig bemühn, mir alles zu geben, was ich nötig
habe.
[Randhinzufügung:] Du hast wohl keine Kopien des Schreiber-Aufsatzes,
die Du mir borgen könntest? Ich würde sie bald zurückschicken.
Du mußt doch auch neue Korrekturen der Gedichte
haben? vielleicht auch schon des großen Buchs?
Grüße bitte von mir Felix und Oskar; wenn ich ruhiger werde
schreibe ich ihnen.
*[Noch nachträglich hinzugefügt:] Übrigens sind meine
Pläne (hinter dem Rücken der Anstalt) viel großzügiger
als Du denkst: bis März hier, bis Mai Smokovec, über den Sommer
Grimmenstein, über den Herbst - ich weiß nicht.
Quelle: Franz Kafka ; Max Brod: Eine Freundschaft (II). Briefwechsel. Hrsg. von Malcolm Pasley. Frankfurt am Main 1989.
Smokovec: Siehe Kafkas Brief vom 13. Dezember 1920.
Trautenauer Kreisgerichtes: Als 1891 in der nordostböhmischen Stadt Trautenau (Trutnov) ein Kreisgericht mit Deutsch als Amtssprache geschaffen wurde, kam es zu tschechischen Aufständen in Prag und zu strengen Gegenmaßnahmen seitens der kaiserlichen Regierung in Wien.
M.: Milena (die in der folgenden Korrespondenz meist nur mit dieser Initiale bezeichnet wird).
Schreiber-Aufsatzes: Siehe 1917, Anm.22.
der Gedichte: Eine Sammlung von Brods Lyrik in Auswahl: Das Buch der Liebe. Gedichte, München: Kurt Wolff 1921.
des großen Buchs: Heidentum, Christentum, Judentum. Siehe 1920, Anm.17.
Letzte Änderung: 17.4.2009 | werner.haas@univie.ac.at |