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[Tagebuch, 19. Februar 1920; Donnerstag]

19 II (1920)

"Du machst aus Deiner Not eine Tugend. "

"Erstens tut das jeder und zweitens tue gerade ich es nicht. Ich lasse meine Not Not bleiben, ich lege die Sümpfe nicht trocken, sondern lebe in ihrem fiebrigen Dunst. "

"Daraus eben machst Du Deine Tugend"

"Wie jeder, ich sagte es schon. Im übrigen tue ich es nur Deinetwegen; damit Du freundlich zu mir bleibst, nehme ich Schaden an meiner Seele. "

Meine Gefängniszelle - meine Festung.

Alles ist ihm erlaubt nur das Sich-vergessen nicht, womit allerdings wieder alles verboten ist bis auf das eine, für das Ganze augenblicklich Notwendige.

Die Enge des Bewußtseins ist eine sociale Forderung Alle Tugenden sind individuell, alle Laster social; was als sociale Tugend gilt, etwa Liebe, Uneigennützigkeit, Gerechtigkeit, Opfermut, sind nur "erstaunlich" abgeschwächte sociale Laster.

Der Unterschied zwischen dem "Ja und Nein" das er seinen Zeitgenossen sagt und jenem das er eigentlich zu sagen hätte, dürfte dem von Tod und Leben entsprechen; ist auch nur ebenso ahnungsweise für ihn faßbar.

Die Ursache dessen, dass das Urteil der Nachwelt über den Einzelnen richtiger ist als das der Zeitgenossen liegt im Toten. Man entfaltet sich in seiner Art erst nach dem Tode, erst wenn man allein ist. Das Totsein ist für den Einzelnen wie der Samstagabend für den Kaminfeger, sie waschen den Ruß vom Leibe. Es wird sichtbar ob die Zeitgenossen ihm oder er den Zeitgenossen mehr geschadet hat, im letzteren Fall war er ein großer Mann.

Die Kraft zum Verneinen, dieser natürlichsten Äußerung des immerfort sich verändernden, erneuernden, absterbend auflebenden menschlichen Kämpferorganismus haben wir immer, den Mut aber nicht, während doch Leben Verneinen ist, also Verneinung Bejahung.

Mit seinen absterbenden Gedanken stirbt er nicht. Das Absterben ist nur eine Erscheinung innerhalb der innern Welt (die bestehen bleibt, selbst wenn auch sie nur ein Gedanke wäre) eine Naturerscheinung wie jede andere weder fröhlich noch traurig.

"Am Sicherheben hindert ihn eine gewisse Schwere, ein Gefühl des Gesichertseins für jeden Fall, die Ahnung eines

Lagers, das ihm bereitet ist und nur ihm gehört, am Stilliegen aber hindert ihn eine Unruhe die ihn vom Lager jagt, es hindert ihn das Gewissen, das endlos schlagende Herz, die Angst vor dem Tod und das Verlangen ihn zu widerlegen, alles das läßt ihn nicht liegen und er erhebt sich wieder. Dieses Auf und Ab und einige auf diesen Wegen gemachte zufällige, flüchtige, abseitige Beobachtungen sind sein Leben. "

"Deine Darstellung ist trostlos, aber nur für die Analyse, deren Grundfehler sie zeigt. Es ist zwar so, dass der Mensch sich aufhebt, zurückfällt, wieder sich hebt u. s. f. aber es ist auch gleichzeitig und mit noch viel größerer Wahrheit ganz und gar nicht so, er ist doch Eines, im Fliegen also auch das Ruhen, im Ruhen das Fliegen und beides vereinigt wieder in jedem Einzelnen, und die Vereinigung in jedem, und die Vereinigung der Vereinigung in jedem u. s. f. bis, nun, bis zum wirklichen Leben, wobei auch diese Darstellung noch ebenso falsch ist und vielleicht noch täuschender als die Deine. Aus dieser Gegend gibt es eben keinen Weg bis zum Leben, während es allerdings vom Leben einen Weg hierher gegeben haben muß. So verirrt sind wir. "

Die Strömung gegen die man schwimmt ist so rasend, dass man in einer gewissen Zerstreutheit manchmal verzweifelt ist über die öde Ruhe, inmitten welcher man plätschert, so unendlich weit nämlich ist man in einem Augenblick des Versagens zurückgetrieben worden.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at