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[An Ottla Kafka]
Liebe Ottla, also der Bericht, er ist natürlich auch für die
Eltern bestimmt, ich schicke ihn aber lieber Dir, damit Du, wenn etwas
Anstößiges darin stehn sollte, es bei der Weitergabe milderst.
Die Fahrt war sehr einfach, In Tatra Lomnitz war allerdings der Koffer
nicht da, aber man erklärte es glaubwürdig, er werde den nächsten
Tag kommen, er ist auch gekommen und fehlerlos.
Der Schlitten erwartete mich, die Fahrt bei Mondschein durch den Schnee-
und Bergwald, das war noch sehr schön, dann kamen wir zu einem großen,
hotelartigen, hellerleuchteten Gebäude, hielten aber nicht dort, sondern
fuhren ein kleines Stückchen weiter zu einem recht dunklen, verdächtig
aussehenden Haus. Ich stieg aus, im kalten Flur (wo ist die Centralheizung?)
niemand, lange muß der Kutscher suchen und rufen, endlich kommt ein
Mädchen und führt mich in den ersten Stock. Es sind zwei Zimmer
vorbereitet, ein Balkonzimmer für mich, das Zimmer nebenan für
Dich. Ich trete in das Balkonzimmer und erschrecke. Was ist hier vorbereitet?
Eingeheizt ist zwar aber der Ofen stinkt mehr, als er wärmt. Und sonst?
Ein Eisenbett, darauf ohne überzug ein Polster und eine Decke, die
Tür im Schrank ist zerbrochen, zum Balkon führt nur eine einfache
Tür und selbst die sitzt nicht fest, wie es mir überhaupt vorkommt,
dass "durch alle Fugen der Wind heult". Das Mädchen,
das ich zum Zimmer rechne und deshalb auch nicht leiden kann, sucht mich
zu trösten, z. B. wozu brauche ich eine doppelte Balkontür? Bei
Tage liege ich doch draußen und in der Nacht schlafe ich bei offener
Tür? Das ist richtig, denke ich, am besten wäre es, auch noch
die letzte Tür wegzunehmen. - Und Ofenheizung sei doch viel besser
als Centralheizung? Centralheizung ist nur drüben in der jetzt vollbesetzten
Hauptvilla. "Aber hier ist doch nicht einmal Ofenheizung" wende
ich ein. Das sei nur heute so, weil in diesem Zimmer noch nicht geheizt
war. - So verteidigt sich das Mädchen immerfort, unnötigerweise,
denn ich weiß ja, dass sie nicht imstande ist, mir etwa das
feste und warme Zimmer aus der Villa Stüdl herzuzaubern.
Aber es kam noch ärger, denn schließlich hatte mich ja bis jetzt
nur das Zimmer enttäuscht, den Lockbrief der Besitzerin hatte ich
aber noch in der Tasche. Nun kam sie selbst, um mich zu begrüßen,
eine große Frau (keine Jüdin) in langem schwarzen Samtmantel,
unangenehmes Ungarisch-Deutsch, süßlich aber hart. Ich war sehr
grob, ohne es genau zu wissen, natürlich; aber das Zimmer schien mir
zu arg. Sie immer überfreundlich, aber ohne jede Lust oder Fähigkeit
zu helfen. Hier ist Dein Zimmer, hier wohne. Nach Weihnachten werden in
der Hauptvilla Zimmer frei. Ich hörte dann gar nicht mehr darauf hin,
was sie sagte. Auch was sie über das Essen sagte, war beiweitem nicht
so schön wie der Brief. Sie war mir so unleidlich, dass ich sehr
bedauerte, ihr den Gepäckschein anvertraut zu haben (sie wollte nächsten
Tag bei der Bahn anfragen lassen, ob der Koffer schon gekommen sei) Der
einzige Lichtpunkt war, dass im Ort ein Arzt sein sollte, ja er sollte
sogar auf dem gleichen Gang, nur paar Türen weiter, wohnen, das schien
mir allerdings sehr unglaubwürdig.
Jedenfalls hatte ich, als sie fortgegangen war, meinen Plan fertig: die
Nacht werde ich mit meinem Fußsack und meiner Decke hier irgendwie
verbringen, vormittag telephoniere ich nach Smokovec (hoffentlich
ist der Ausnahmezustand schon vorüber und Telephongespräche
schon erlaubt) und nachmittag wenn der Koffer da ist, zahle ich Reugeld
wieviel man will, gebe mich nicht erst mit der Elektrischen ab, sondern
nehme einen Schlitten und fahre hin über Berg und Tal. Immerfort hatte
ich die tröstliche Vorstellung, wie ich mich morgen abend aufatmend
auf das feine gefederte Kanapee in Smokovec hinwerfen werde.
Ich glaube, Du wärest diesem ersten Schrecken ebenso erlegen, vielleicht
hättest Du aber den Schlitten schon abend zu nehmen versucht.
Da kam dem Mädchen ein Einfall; ob ich mir nicht, wenn mir dieses
Zimmer so mißfalle, das (für Dich vorbereitete) Nebenzimmer
anschauen wolle, liegen könne ich ja auf diesem Balkon und nebenan
wohnen. Ich ging ohne jede Hoffnung hinüber, aber da ich gar nicht
mehr verwöhnt war, gefiel es mir ausgezeichnet. Es war auch wirklich
viel besser, größer, besser beheizt, besser beleuchtet, ein
gutes Holzbett, ein neuer Schrank, das Fenster weit vom Bett, da blieb
ich.
Und damit begann die Wendung zum Guten (die ich zum Teil Dir verdanke,
denn hättest Du Dich nicht angemeldet, wäre
das Zimmer nicht geheizt gewesen und wäre es nicht geheizt gewesen,
wäre es dem Mädchen kaum eingefallen mich hinzuführen).
Ich ging dann in die Hauptvilla zum Essen, auch dort gefiel es mir ganz
gut, einfach (ein neuer großer Speisesaal wird erst morgen eröffnet)
aber rein, gutes Essen, die Gesellschaft ausschließlich ungarisch
(wenig Juden) sodass man schön im Dunkel bleibt. Und erst am
nächsten Tag sah alles noch viel besser aus. Die Villa in der ich
wohne (Tatra heißt sie) war plötzlich ein hübsches Gebäude,
es gab weder Wind noch Fugen, der Balkon lag genau in der Sonne. Als man
mir für die nächste Woche ein Zimmer in der Hauptvilla anbot,
hatte ich nicht die geringste Lust mehr dazu, denn die "Tatra"
hat große Vorteile gegenüber der Hauptvilla: vor allem ist man
gezwungen dreimal zum Essen hinüberzugehn (oder vielmehr man ist nicht
dazu gezwungen, man kann es sich auch bringen lassen) und wird nicht so
faul und unbeweglich, wenn man wie z. B. in Schelesen im gleichen Haus
wohnt und ißt und immer nur aus dem ersten Stock ins Parterre stiefelt
und wieder zurück. Dann ist die Hauptvilla wie man mir bestätigt
hat sehr lärmend, immerfort läuten die Glocken, die Küche
macht Lärm, die Restauration macht Lärm, die Fahrstraße,
die dort eng vorüberführt, eine Rodelbahn, alles macht Lärm.
Bei uns ist es ganz still, ich glaube, nicht einmal die Glocke läutet
(sie läutet ja gewiß nur habe ich sie noch nicht gehört)
Dann ist drüben eigentlich nur eine gemeinsame Liegehalle und selbst
die liegt nicht so in der Sonne wie mein Balkon. Endlich ist auch die Ofenheizung
viel besser. Es wird zweimal eingeheizt, früh und abend, nur mit Holz,
so dass ich nachlegen kann, wie viel ich will. Jetzt am abend ist
z. B. so warm, dass ich ohne Kleider halb nackt dasitze. Und, wenn
man auch das als Vorteil ansehn will der Arzt wohnt tatsächlich
auf meinem Gang, links, drei Türen weiter.
Auch Frau Forberger war am nächsten Tag ganz anders, mit dem Samtmantel
(oder war es Pelz?) hatte sie alles Böse abgelegt und war sanft und
freundlich bei der Sache. Das Essen ist genug erfindungsreich, ich erkenne
die Dinge, aus denen es zusammengesetzt ist, gar nicht auseinander; es
wird zum Teil eigens für mich gekocht, trotzdem an 30 Gäste da
sind. Auch der Arzt gibt seine Ratschläge dazu. Zuerst wollte er natürlich
eine Arsenkur12 anfangen, dann besänftigte ich ihn durch einen Pauschalvertrag,
wonach er mich täglich - 6 K kostet es - besucht. Ich soll vorläufig
5 mal täglich Milch und 2 mal Sahne trinken, kann es aber nur bei
größter Anstrengung 2 ½ hinsichtlich der Milch und 1
mal hinsichtlich der Sahne.
Jedenfalls wären also alle äußeren Voraussetzungen für
ein gutes Gelingen gegeben; bleibt nur der Feind im Kopf.
Denkt der Vater wirklich daran herzukommen? Wohlfühlen würde
er sich hier sicher nur wenn die Mutter mitkäme und selbst dann erst
wenn die Tage länger werden. Es sind hier nämlich kaum 1, 2 Herren
die für ihn in Betracht kämen, sonst nur Frauen, Mädchen
und junge Männer, die meisten können Deutsch sprechen aber am
liebsten ungarisch (Auch die Zimmer-Küchenmädchen, Kutscher u.s.f.
Gut slowakisch glaube ich bisher nur einmal - allerdings fuhr ich ja zweiter
Klasse - in der Eisenbahn von zwei jungen Mädchen haben sprechen hören,
sie sprachen sehr eifrig und rein, bis dann allerdings die eine auf eine
erstaunliche Mitteilung hin, welche ihr die andere machte, ausrief: oĭoĭoĭoĭoĭ!)
Das wäre also für den Vater nichts. Sonst aber könnte sich
Matliary jetzt vor ihm sehen lassen, die heute neu eröffneten Säle
(Speise- Billard und Musiksaal) sind geradezu "hochelegant".
Und was machst Du? Honig? Turnen? Schwindel bei Aufstehn? Zeitunglesen
für mich? Viele Grüße Dir und Deinem Mann (dem ich den
guten Platz im Coup‚ verdanke) und allen andern, jedem besonders, bis zum
Wurm hinunter.
Warst Du bei Max?
Dein Franz
Den Eltern mußt du den Brief gar nicht zeigen, ich
schreibe ihnen ja häufig
Zur Datierung: Kafka fuhr am 18. Dezember 1920 zur Erholung nach Matliary,
der vorliegende Bericht muß an einem der nächsten Tage verfaßt
worden sein. Vgl. auch die Anmerkungen zu Nr. 98.
Smocovec: In dem nur eine Wegstunde entfernten Nový
Smocovec war das Sanatorium Dr. von Szontaghs, wo sich Kafka ebenfalls
untersuchen ließ. Vgl. Br 283, 291, 320, Nr. 89 und die Anmerkungen
zu Nr. 95.
Ausnahmezustand: wegen politischer Unruhen, die
in der 2. Dezemberwoche besonders in Prag zu Streiks und Werkbesetzungen
durch Arbeiter geführt hatten.
hättest Du Dich nicht angemeldet: Ottla wollte
zunächst für ein paar Tage mitfahren. (Vgl. Br 283)
der Arzt: Dr. Leopold Strelinger, über den
sich Kafka in Briefen an Max Brod äußerst kritisch äußert.
(Vgl. Br 285 und 305 f.)
Den Eltern mußt Du den Brief gar nicht zeigen:
Kafka hat deswegen nachträglich den ersten Briefabschnitt außer
den fünf einleitenden Worten durchgestrichen.
Letzte Änderung: 5.6.2018 werner.haas@univie.ac.at