Voriger Eintrag | Jahresübersicht | Indexseite | Nächster Eintrag |
[An Ottla Kafka]
Liebe Ottla, schweigsam? Das ist ein wenig undeutlich,
denn das kann ebenso ein wunderbarer als auch ein abscheulicher Zustand
sein, ich will nicht deuten, sondern Deinen nächsten Brief abwarten.
Ja, leicht ist ja nichts und auch das Glück, sogar das wahre Glück
- Blitz, Strahl, Befehl aus der Höhe - ist eine entsetzliche Last.
Aber das ist nichts für Briefe, das ist für "das Badezimmer".
Wenn Du zu Oskar giengest wäre es mir doch sehr lieb, ich habe ihm
noch gar nicht geschrieben: wie soll man ihm auch schreiben, wenn jeder
Brief notwendig öffentlich ist. Gib ihm das zu verstehn, wenn dafür
Gelegenheit ist. Oder lieber nicht. Aber geh bitte hin und grüß
ihn von mir dann auch die Frau und den Jungen. Hüte oder
dergleichen brauchst Du nicht? Um Dich auf dem Weg aufzuhalten, meine
ich. Ich habe ihr das Schlimmste getan, was vielleicht möglich ist,
und es ist wahrscheinlich zuende. So spiele ich mit einem lebendigen Menschen.
Herr Fröhlich ist gestorben, vorgestern habe ich es zufällig
gehört. Ihr wißt es wahrscheinlich schon länger. Kondolieren
werde ich nicht, ich muß es ja nicht wissen. Hoffentlich ist dieses
scheinbar sehr glückliche Leben ohne große Schmerzen zuende
gegangen, ich weiß keine Einzelnheiten.
Wenn die Eltern nicht nach Franzensbad fahren - da am 6. Juni noch ruhig
Karten gespielt werden, scheint es so (wo war denn die Mutter an dem Abend?)
- werde ich Ende Juni direkt nach Prag fahren. Das Wetter ist sehr günstig,
wäre nicht der rebellierende Kopf, wäre alles in Ordnung
Dein Franz
Fräulein besonders grüßen! Was könnte ich ihr mitbringen?
Brief an Felice? Hanne? Schwimmschulkarte? Memoiren? Onkel
Alfred? Bestelle bitte bei Taussig von der Berliner Zeitschrift: Die Weltbühne
das Heft Nr 23. Herausgeber Jakobsohn
Zu diesem Brief muß ein Umschlag mit Stempel vom 12. VI. 20 gehören.
(Vgl. die Anmerkungen zu Nr. 81) In einer am gleichen Tag gestempelten
Postkarte Kafkas an Felix Weltsch heißt es: "vielen Dank, nein,
ich habe die Weltbühne nicht gelesen; wenn Du kannst, so hebe sie
mir bitte auf." (Br 277) Weltsch hatte seinen Freund auf Kurt Tucholskys
Rezension der Erzählung In der Strafkolonie aufmerksam gemacht,
die in Nr. 23 (3. 6. 1920) der Berliner Weltbühne unter dem
Pseudonym Peter Panter erschienen war (Text heute leicht zugänglich
in J. Born u. a., KafkaSymposion, Berlin [1965], S. 154 ff.). Der fragliche
"Freitag" also wahrscheinlich der 11. Juni.
schweigsam: Kafka im Juni an Max Brod: "Weißt
Du zufällig etwas von Ottla? Sie schreibt mir wenig. Mitte Juli soll
Hochzeit sein." (Br 277)
Hüte oder dergleichen: Anspielung (wie auch
das Folgende) auf Julie Wohryzek, die einen Hutsalon eröffnet hatte.
Vgl. Br 276!
Hanne: Das dritte, unlängst geborene Kind Ellis.
Von seiner schreckhaften Wirkung auf das kleine Mädchen erzählt
Kafka im November 1921 in einem an Robert Klopstock gerichteten Brief eine
kleine Anekdote. (Vgl. Br 363)
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at