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[An Ottla Kafka]

[Meran,] Freitag [, 11. Juni 1920]
 


Liebe Ottla, schweigsam? Das ist ein wenig undeutlich, denn das kann ebenso ein wunderbarer als auch ein abscheulicher Zustand sein, ich will nicht deuten, sondern Deinen nächsten Brief abwarten. Ja, leicht ist ja nichts und auch das Glück, sogar das wahre Glück - Blitz, Strahl, Befehl aus der Höhe - ist eine entsetzliche Last. Aber das ist nichts für Briefe, das ist für "das Badezimmer".

Wenn Du zu Oskar giengest wäre es mir doch sehr lieb, ich habe ihm noch gar nicht geschrieben: wie soll man ihm auch schreiben, wenn jeder Brief notwendig öffentlich ist. Gib ihm das zu verstehn, wenn dafür Gelegenheit ist. Oder lieber nicht. Aber geh bitte hin und grüß ihn von mir dann auch die Frau und den Jungen. Hüte oder dergleichen brauchst Du nicht? Um Dich auf dem Weg aufzuhalten, meine ich. Ich habe ihr das Schlimmste getan, was vielleicht möglich ist, und es ist wahrscheinlich zuende. So spiele ich mit einem lebendigen Menschen.

Herr Fröhlich ist gestorben, vorgestern habe ich es zufällig gehört. Ihr wißt es wahrscheinlich schon länger. Kondolieren werde ich nicht, ich muß es ja nicht wissen. Hoffentlich ist dieses scheinbar sehr glückliche Leben ohne große Schmerzen zuende gegangen, ich weiß keine Einzelnheiten.

Wenn die Eltern nicht nach Franzensbad fahren - da am 6. Juni noch ruhig Karten gespielt werden, scheint es so (wo war denn die Mutter an dem Abend?) - werde ich Ende Juni direkt nach Prag fahren. Das Wetter ist sehr günstig, wäre nicht der rebellierende Kopf, wäre alles in Ordnung

Dein Franz


Fräulein besonders grüßen! Was könnte ich ihr mitbringen? Brief an Felice? Hanne? Schwimmschulkarte? Memoiren? Onkel Alfred? Bestelle bitte bei Taussig von der Berliner Zeitschrift: Die Weltbühne das Heft Nr 23. Herausgeber Jakobsohn




Zu diesem Brief muß ein Umschlag mit Stempel vom 12. VI. 20 gehören. (Vgl. die Anmerkungen zu Nr. 81) In einer am gleichen Tag gestempelten Postkarte Kafkas an Felix Weltsch heißt es: "vielen Dank, nein, ich habe die Weltbühne nicht gelesen; wenn Du kannst, so hebe sie mir bitte auf." (Br 277) Weltsch hatte seinen Freund auf Kurt Tucholskys Rezension der Erzählung In der Strafkolonie aufmerksam gemacht, die in Nr. 23 (3. 6. 1920) der Berliner Weltbühne unter dem Pseudonym Peter Panter erschienen war (Text heute leicht zugänglich in J. Born u. a., KafkaSymposion, Berlin [1965], S. 154 ff.). Der fragliche "Freitag" also wahrscheinlich der 11. Juni.


schweigsam: Kafka im Juni an Max Brod: "Weißt Du zufällig etwas von Ottla? Sie schreibt mir wenig. Mitte Juli soll Hochzeit sein." (Br 277)


Hüte oder dergleichen: Anspielung (wie auch das Folgende) auf Julie Wohryzek, die einen Hutsalon eröffnet hatte. Vgl. Br 276!


Hanne: Das dritte, unlängst geborene Kind Ellis. Von seiner schreckhaften Wirkung auf das kleine Mädchen erzählt Kafka im November 1921 in einem an Robert Klopstock gerichteten Brief eine kleine Anekdote. (Vgl. Br 363)


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at