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[An Ottla Kafka]

[Meran, Mitte Mai 1920]
 


Liebe Ottla, Dank für die zwei Briefe und das Telegramm. Ich hätte Dir schon früher geantwortet, aber die Schlaflosigkeit, die eine Zeitlang fast unmerklich war, ist seit einiger Zeit wiederabscheulich ausgebrochen, was Du daraus beurteilen kannst, dass ich zur Bekämpfung allerdings fast mit Gegenerfolg einmal Bier getrunken, einmal Baldriantee getrunken und heute Brom vor mir stehen habe. Nun es wird vorübergehen (vielleicht ist übrigens die Meraner Luft daran mitschuldig, Bädecker behauptet es) aber man wird manchmal unfähig zu schreiben.

Als ich Dir den Brief mit den Belehrungen schrieb, fiel mir natürlich nicht ein, zu denken, sie könnten noch aktuell sein, wenn sie ankämen, ich hielt es bloß nicht für ausgeschlossen dass sie wieder aktuell geworden sein könnten. Es waren übrigens gar nicht Belehrungen sonder nur Fragen.

Wegen Deiner Krankheit war ich deshalb einen Augenblick erschrocken, weil ich kurz nach dem Lesen Deines damaligen Briefs Herrn Fröhlich, der mir, sicher in übertreibung von einer Blatternepidemie in Prag erzählte. Ich bin überzeugt dass naturgemäße Lebensweise Blattern übersteht, aber ich will nicht dass der Beweis von Dir geführt wird.

dass die Hochzeit im Juli sein wird - wie sollte mich das überraschen? Ich dachte vielmehr, sie werde Ende Juni sein. Du sprichst manchmal davon, wie wenn Du mir damit ein Unrecht tätest, während es doch das Gegenteil ist. Beide sollten wir nicht heiraten, das wäre abscheulich und da Du von uns beiden dazu gewiß die geeignetere bist, tust Du es für uns. Das ist doch einfach und die ganze Welt weiß es. Dafür bleibe wieder ich ledig für uns beide.

Ich werde wohl noch im Juni kommen und vom Urlaub noch ein Stück mir aufheben, gar wenn die Schlaflosigkeit mir in den Kurerfolg hineinfährt. Zuletzt hatte ich 3.50 zugenommen, jetzt habe ich mich einige Tage nicht gewogen.

Jene Beruhigung hast Du sehr gut ausgeführt, ich schreibe recht regelmäßig, aber da war wohl eine Lücke.

Den Eltern danke bitte für ihren lieben Brief, ich schreib ihnen bald, auch an die dort angegebenen Adressen. Wann fahren die Eltern ins Bad oder verschieben sie es wegen der Hochzeit? Kommt Onkel Alfred?

Das Wetter ist jetzt sehr schön, der früher gefürchtete Regen wird jetzt gewünscht und kommt auch regelmäßig zu seine Zeit. Ich bin den größten Teil des Tages fast nackt und kann den Leuten die von 2 nahen Balkonen herüberschauen, nicht helfen, denn es ist wirklich sehr heiß. Vielleicht übersiedle ich für die paar Wochen noch nach einem andern Ort, aber nicht wegen der Hitze, sondern wegen der Schlaflosigkeit, es tut mir leid, denn eine so gute Pension und Behandlung finde ich nicht wieder.

Allerdings dachte ich das im Hotel Emma auch. Der Vater würde sagen: "Wenn man ihn nicht prügelt und hinauswirft, ist es eine großartige Pension". Er hat recht, aber ich auch.

Warst Du schon bei Oskar? Grüß ihn vielmals von mir und erkläre ihm, warum ich noch nicht geschrieben habe. Allerdings hast Du jetzt vielleicht wegen der Vorarbeiten gar keine Zeit. Brief an Felice?

Grüße auch sonst alle und das Fräulein besonders. Wir habe noch immer kein Dienstmädchen?

F




Datierung: Der Brief steckt irrtümlich in einem Umschlag, der am 12. VI. 20 abgestempelt wurde (vgl. die Anmerkungen zu Nr. 84). Die Papierverhältnisse (Kafka verwendet in den vorhergehenden Briefen das gleiche Papier, im Juni aber anderes), die erwähnten "Belehrungen", die sich auf Nr. 78 beziehen (seit Anfang Mai müssen also gute zwei Postwege vergangen sein), der Hinweis auf das Telegramm (es bezieht sich sicher auf die Genehmigung der Urlaubsverlängerung durch die Direktion, die am 15. Mai erteilt wurde, vgl. Nr. 79 und D 73) und der Umfang der berichteten Gewichtszunahme Kafkas weisen auf eine Entstehungszeit in der Mitte dieses Monats.


Schlaflosigkeit: wegen der Korrespondenz mit Milena.


Herrn Fröhlich: dahinter ist "traf" zu ergänzen, vgl. auch Nr. 84.


die Hochzeit: Ottla heiratete Josef David am 15. Juli; zu Ottlas "Unrecht" vgl. KO 455.


ich schreibe recht regelmäßig: nämlich an Julie Wohryzek.


ins Bad: Vgl. Nr. 84.


Onkel Alfred: Alfred Löwy, ein Bruder der Mutter, war in Madrid Eisenbahndirektor; er traf am 7. Juli in Prag ein. (Vgl. M 88 und Nr. 84)


nach einem andern Ort: Kafka dachte wahrscheinlich an Klobenstein bei Bozen. (Vgl. Br 274 und M 72)


warum ich noch nicht geschrieben habe: Max Brod, dem er seine Verhältnisse nur andeutungsweise darlegen konnte, weil er befürchtete, seine Frau könne an die Korrespondenz gelangen (vgl. M 86), teilte er hinsichtlich des blinden Freundes mit, dem die eingehende Post natürlich von seiner Frau vorgelesen werden mußte: "ich entschließe mich, trotzdem kein Hindernis vorliegt, so schwer zu notwendigerweise öffentlichen Briefen." (Br 275)

Tatsächlich schrieb er doch noch an Oskar, vgl. Br 242 (dort irrtümlich unter "Juni 1918 " eingeordnet) und Nr. 84.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at