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An Milena Jesenská

[Prag, November 1920]
Samstag abend
 

Den gelben Brief habe ich noch nicht bekommen, ich werde ihn ungeöffnet zurückschicken.

Sollte es nicht gut sein, dass wir einander zu schreiben jetzt aufhören, müßte ich mich entsetzlich irren. Ich irre mich aber nicht, Milena.

Ich will nicht von Dir reden, nicht weil es nicht meine Sache wäre, es ist meine Sache, nur reden will ich davon nicht.

Also nur von mir: Das was Du mir bist Milena mir hinter aller Welt bist in der wir leben, das steht auf den täglichen Fetzen Papier, die ich Dir geschrieben habe, nicht. Diese Briefe, so wie sie sind, helfen zu nichts, als zu quälen und quälen sie nicht, ist es noch schlimmer. Sie helfen zu nichts, als einen Tag Gmünd hervorzubringen, als Mißverständnisse, Schande, fast unvergängliche Schande hervorzubringen. Ich will Dich so fest sehn, wie zum erstenmal auf der Straße, aber die Briefe lenken mehr ab, als die ganze Lerchenfelderstraße mit ihrem Lärm.

Aber entscheidend ist das nicht einmal, entscheidend ist meine an den Briefen sich steigernde Ohnmacht über die Briefe hinauszukommen, Ohnmacht sowohl Dir als mir gegenüber - 1000 Briefe von Dir und 1000 Wünsche von mir werden mir das nicht widerlegen und entscheidend ist die (vielleicht infolge dieser Ohnmacht, aber alle Gründe liegen hier im Dunkel) unwiderstehlich starke Stimme, förmlich Deine Stimme die mich still zu sein auffordert [. . .] [ ca. 6 Wörter unleserlich gemacht] Und nun ist noch alles, was Dich betrifft, ungesagt, es steht freilich meistens in Deinen Briefen (vielleicht auch in dem gelben oder richtiger: es steht in dem Telegramm, mit dem Du den Brief zurückverlangst - mit Recht natürlich) oft an den von mir gefürchteten Stellen, denen ich ausweiche wie der Teufel dem geweihten Ort.


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Merkwürdig, auch ich wollte Dir telegraphieren, spielte lange damit, im Bett am Nachmittag, auf dem Belvedere am Abend, es handelte sich aber um nichts anderes als um den Text: "erbitte ausdrückliche und zustimmende Beantwortung der unterstrichenen Stelle im letzten Brief" schließlich aber schien mir darin unbegründetes und häßliches Mißtrauen zu liegen und ich telegraphierte nicht.


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So bin ich jetzt, ohne irgendetwas sonst zu machen, bis ½ 2 nachts über diesem Brief gesessen, habe ihn angesehn und durch ihn Dich. Manchmal, nicht im Traum, habe ich diese Vorstellung: Dein Gesicht ist von Haaren zugedeckt, es gelingt mir das Haar zu teilen und rechts und links wegzuschieben, Dein Gesicht erscheint, ich fahre an der Stirn und den Schläfen hin und halte nun Dein Gesicht zwischen den Händen.


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Montag

Diesen Brief wollte ich zerreißen, nicht wegschicken, auf das Telegramm nicht antworten, Telegramme sind so vieldeutig, nun ist aber die Karte und der Brief da, diese Karte, dieser Brief. Aber auch ihnen gegenüber, Milena, und wenn die reden wollende Zunge zerbissen werden müßte - Wie kann ich glauben, dass Du die Briefe, jetzt, brauchst, wo Du nichts anderes brauchst, als Ruhe, wie Du es halb unbewußt oft sagtest. Und diese Briefe sind doch nur Qual, kommen aus Qual, unheilbarer, machen nur Qual, unheilbare, was soll das - und es steigert sich gar noch - in diesem Winter? Still sein, ist das einzige Mittel zu leben, hier und dort. Mit Trauer, gut, was tut das? Das macht den Schlaf kindlicher und tiefer. Aber Qual, das heißt einen Pflug durch den Schlaf- und durch den Tag - führen, das ist nicht zu ertragen.


am rechten Rand der dritten Briefseite (Beschriftung von gesessen, habe bis tut das?): Wenn ich in ein Sanatorium fahre, werde ich es Dir natürlich schreiben.




1] Belvedere: Die Parkanlagen des Belvedere/Letná auf dem linken Moldauufer suchte Kafka gern zu Spaziergangen auf.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at