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An Milena Jesenská

[Prag, November 1920]
 


Ich bin nicht unaufrichtig Milena (allerdings habe ich den Eindruck, dass meine Schrift früher offener und klarer war, ist es so?) ich bin so aufrichtig, als es die Gefängnisordnung" erlaubt und das ist sehr viel, auch wird die "Gefängnisordnung" immer freier. Aber "damit" kann ich nicht kommen, "damit" zu kommen ist unmöglich. Ich habe eine Eigentümlichkeit, die mich von allen mir Bekannten nicht wesentlich, aber graduell sehr stark unterscheidet. Wir kennen doch beide ausgiebig charakteristische Exemplare von Westjuden, ich bin, soviel ich weiß, der westjüdischeste von ihnen, das bedeutet, übertrieben ausgedrückt, dass mir keine ruhige Sekunde geschenkt ist, nichts ist mir geschenkt, alles muß erworben werden, nicht nur die Gegenwart und Zukunft, auch noch die Vergangenheit, etwas das doch jeder Mensch vielleicht mitbekommen hat, auch das muß erworben werden, das ist vielleicht die schwerste Arbeit, dreht sich die Erde nach rechts - ich weiß nicht, ob sie das tut müßte ich mich nach links drehn, um die Vergangenheit nachzuholen. Nun habe ich aber zu allen diesen Verpflichtungen nicht die geringste Kraft, ich kann nicht die Welt auf meinen Schultern tragen, ich ertrage dort kaum meinen Winterrock. Diese Kraftlosigkeit ist übrigens nicht etwas unbedingt zu beklagendes; welche Kräfte würden für diese Aufgaben hinreichen! Jeder Versuch hier mit eigenen Kräften durchkommen zu wollen, ist Irrsinn und wird mit Irrsinn gelohnt. Darum ist es unmöglich "damit zu kommen" wie Du schreibst. Ich kann aus Eigenem nicht den Weg gehn, den ich gehen will, ja ich kann ihn nicht einmal gehn wollen, ich kann nur still sein, ich kann nichts anderes wollen, ich will auch nichts anderes.


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Es ist etwa so, wie wenn jemand vor jedem einzelnen Spaziergang nicht nur sich waschen, kämmen u.s.w. müßte - schon das ist ja mühselig genug - sondern auch noch, da ihm vor jedem Spaziergang alles Notwendige immer wieder fehlt, auch noch das Kleid nähn, die Stiefel zusammenschustern, den Hut fabricieren, den Stock zurechtschneiden u.s.w. Natürlich kann er das alles nicht gut machen, es hält vielleicht paar Gassen lang, aber auf dem Graben z. B. fällt plötzlich alles auseinander und er steht nackt da mit Fetzen und Bruchstücken. Diese Qual nun, auf den Altstädter Ring zurückzulaufen! Und am Ende stößt er noch in der Eisengasse auf einen Volkshaufen, welcher auf Juden Jagd macht.

Mißversteh mich nicht Milena, ich sage nicht dass dieser Mann verloren ist, ganz und gar nicht, aber er ist verloren wenn er auf den Graben geht, er schändet dort sich und die Welt.


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Deinen letzten Brief bekam ich Montag und habe Dir auch gleich Montag geschrieben.


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Dein Mann soll hier gesagt haben, dass er nach Paris übersiedeln will. Handelt es sich um etwas Neues innerhalb des alten Plans?




1] auf dem Graben: Der Graben / Na Příkopá, die Prager Haupt- und Geschäftsstraße zwischen Pulverturm und Wenzelsplatz. Hier befanden sich mehrere, damals viel von Deutschen besuchte Restaurants und Kaffeehäuser, darunter das "Continental".


2] Eisengasse: [Železná ul.] Verbindungsstraße vom Altstädter Ring - über die Bergmannsgasse/Havířká ul. - zum Graben/Na Příkope. In dieser Straße hatten sich während der Ausschreitungen Übergriffe ereignet, so dass sie am 17. November vorübergehend von der Polizei gesperrt worden war. Vgl. 1. Brief vom [Mitte November 1920], Anm. 1.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at