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An Milena Jesenská

[Prag, 27. Oktober 1920]
 


Mit dem Stundenplan hast Du mir Freude gemacht. Ich studiere ihn wie eine Landkarte. Wenigstens eine Sicherheit. Aber vor 14 Tagen komme ich gewiß nicht, wahrscheinlich später. Im Bureau hindert mich noch einiges; das Sanatorium, das mir früher bereitwillig geschrieben hat, ist jetzt auf eine vegetarische Anfrage hin verstummt; auch erhebe ich mich zu der Reise förmlich wie ein Volk, immerfort fehlt noch etwas hier und dort an Entschlußkraft, der und jener muß noch aufgemuntert werden, schließlich warten alle und können nicht fortreisen, weil ein Kind weint. Auch fürchte ich mich fast vor der Reise; wer wird mich z. B. in einem Hotel dulden, wenn ich wie etwa gestern (ich war schon wie seit Jahren nicht, um ¼ 10 im Bett) von ¼ 10 bis gegen 11 ununterbrochen huste, dann einschlafe, um 12 beim Herumwenden von links nach rechts wieder zu husten anfange und bis 1 Uhr huste. In einem Schlafwagen, wie ich voriges Jahr ohne Schwierigkeit fuhr, würde ich unbedingt nicht mehr zu fahren wagen.

Lese ich richtig? Littya? Den Namen kenne ich nicht.

Ganz so ist es nicht Milena. Du kennst den, der Dir jetzt schreibt, aus Meran. Dann waren wir eines, da war vom Sichkennen keine Rede mehr und dann sind wir wieder gespalten worden.

Darüber möchte ich noch einiges sagen, es geht mir aber nicht aus der gewürgten Kehle hinaus.


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"Ale snad máš pravdu, snad to jiní přeloží lápe" ["Aber vielleicht hast Du recht, vielleicht übersetzen das andere besser."] ich wiederhole hier nur diesen Satz, damit er nicht ohne weiters verlorengeht.

Den Brief von Illový bekam ich übrigens Freitag, und Sonntag erschien es, merkwürdiger Weise "Vor dem Gesetz".


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Ich bin nicht schuldig, wenigstens nicht sehr schuldig, dass das Inserat Sonntag nicht in der Zeitung war. Heute ist Mittwoch, gestern vor einer Woche gab ich das Inserat in die Agentur (den Brief hatte ich allerdings tags vorher bekommen), hätte die Agentur das Inserat gleich weggeschickt, wie sie mir es versprochen haben, wäre es Donnerstag in Wien gewesen und Sonntag in der Zeitung. Ich war Montag fast unglücklich, als ich es nicht fand: Gestern zeigten sie mir dann die Karte von der Presse, dass es zu spät gekommen ist. Da es Sonntag erscheinen soll, für diesen Sonntag es aber wahrscheinlich wieder zu spät wäre, wird es erst nächsten Sonntag erscheinen.




1] vegetarische Anfrage: Kafka war seit 1909 überzeugter Vegetarier; so war denn vegetarische Kost für ihn unbedingte Voraussetzung für die Wahl des Sanatoriums.


2] "Vor dem Gesetz": In der Tageszeitung "Právo lidu", 29. Jg. , Nr. 253 (24. 10. 1920), Sonntagsbeilage Nr. 43, war Kafkas Parabel unter dein Titel "Před zákonern" in der Übersetzung von Milena Illová, der Frau seines Mitschülers, erschienen. Kafka erklärt das hier zu seinem Bedauern, hatte er doch Milena Jesenská allein das Recht zur Übersetzung seiner Dichtungen zugesprochen. Vgl. Brief vom [Mai 1920], S. 15.


3] das Inserat: Die Anzeige in der "Neuen Freien Presse", Wien. Vgl. 2. Brief vom [19.-23. August 1920] Freitag, Anm. 1.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at