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An Milena Jesenská

[Prag, September 1920]
 


Jetzt bin ich zwei Stunden auf dem Kanapee gelegen und habe wohl kaum an etwas anderes gedacht als an Dich. Du vergißt Milena dass wir do ch nebeneinander stehn und dieses Wesen auf dem Boden anschauen, das ich bin; aber ich der dann zuschaut, bin dann allerdings wesenlos.

Übrigens spielt auch der Herbst mit mir, verdächtig warm, verdächtig kalt ist mir manchmal, aber ich sehe nicht nach, es wird auch nicht arg sein. Tatsächlich habe ich aber auch schon daran gedacht durch Wien durchzufahren, das aber nur deshalb weil die Lunge tatsächlich schlechter ist als im Sommer - das ist ja ganz natürlich - und auf der Gasse etwa zu reden macht mir Schwierigkeiten und hat auch unangenehme Folgen. Soll ich schon aus diesem Zimmer fort dann will ich mich möglichst schnell auf den Liegestuhl in Grimmenstein werfen. Übrigens wird mir vielleicht gerade die Reise gut tun und die Wiener Luft, die mir wie die eigentliche Lebensluft vorkam.

"Wiener Wald" mag näher sein, aber sehr verschieden ist die Entfernung gewiß nicht. Das Sanatorium liegt nicht in Leobersdorf sondern weiter und von der Station ist zum Sanatorium auch noch eine halbe Stunde Wagenfahrt. Wenn ich also von diesem Sanatorium ohne weiters nach Baden hätte fahren können - gegen die Vorschriften ist das gewiß - so kann ich doch ebensogut etwa von Grimmenstein nach Wiener-Neustadt fahren, das ist wohl weder für Dich noch mich ein großer Unterschied.


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Wie kommt es Milena dass Du noch immer nicht Angst oder Abscheu vor mir hast oder dergleichen? In was für Tiefen geht Dein Ernst und Deine Kraft!

Ich lese ein chinesisches Buch, bubácká kniha ["Gespensterbuch"], deshalb erinnere ich mich daran, es handelt nur vom Tod. Einer liegt auf dem Sterbebett und in der Unabhängigkeit, die ihm die Nähe des Todes gibt, sagt er: "mein Leben habe ich damit verbracht mich gegen die Lust zu wehren es zu beenden". Dann lacht ein Schüler einen Lehrer aus, der nur vom Tode spricht: "Immerfort sprichst Du vom Tod und stirbst doch nicht. " "Und doch werde ich sterben. Ich sage eben meinen Schlußgesang. Des einen Gesang ist länger, des andern Gesang ist kürzer. Der Unterschied kann aber immer nur einige Worte ausmachen."

Das ist richtig und es ist unrecht über den Helden zu lächeln, der mit der Todeswunde auf der Bühne liegt und eine Arie singt. Wir liegen und singen jahrelang.

Auch "Spiegelmensch" habe ich gelesen. Was für eine Fülle der Lebenskraft! Nur an einer Stelle ein wenig angekränkelt, aber dafür ist es überall sonst desto üppiger und selbst die Krankheit ist üppig. Ich habe es gierig wendegelesen an einem Nachmittag.


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Was ist es, was Dich jetzt "dort" quält? Ich dachte früher immer, ich sei dem gegenüber ohnmächtig, das bin ich aber erst jetzt. Auch bist Du so oft krank.




1] ein chinesisches Buch: Titel nicht zu ermitteln. Das in Kafkas Brief nachfolgende Zitat erscheint in leicht abgewandelter Form in Kafkas "Fragmenten". Vgl. "Hochzeitsvorbereitungen", S. 338.


2] "Spiegelmensch": Franz Werfel, "Spiegelmensch. Magische Trilogie" (München: Kurt Wolff, 1920).

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at