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An Milena Jesenská
Jetzt bin ich zwei Stunden auf dem Kanapee gelegen und habe wohl kaum an
etwas anderes gedacht als an Dich. Du vergißt Milena dass wir
do ch nebeneinander stehn und dieses Wesen auf dem Boden anschauen, das
ich bin; aber ich der dann zuschaut, bin dann allerdings wesenlos.
Übrigens spielt auch der Herbst mit mir, verdächtig warm, verdächtig
kalt ist mir manchmal, aber ich sehe nicht nach, es wird auch nicht arg
sein. Tatsächlich habe ich aber auch schon daran gedacht durch Wien
durchzufahren, das aber nur deshalb weil die Lunge tatsächlich schlechter
ist als im Sommer - das ist ja ganz natürlich - und auf der Gasse
etwa zu reden macht mir Schwierigkeiten und hat auch unangenehme Folgen.
Soll ich schon aus diesem Zimmer fort dann will ich mich möglichst
schnell auf den Liegestuhl in Grimmenstein werfen. Übrigens wird mir
vielleicht gerade die Reise gut tun und die Wiener Luft, die mir wie die
eigentliche Lebensluft vorkam.
"Wiener Wald" mag näher sein, aber sehr verschieden ist
die Entfernung gewiß nicht. Das Sanatorium liegt nicht in Leobersdorf
sondern weiter und von der Station ist zum Sanatorium auch noch eine halbe
Stunde Wagenfahrt. Wenn ich also von diesem Sanatorium ohne weiters nach
Baden hätte fahren können - gegen die Vorschriften ist das gewiß
- so kann ich doch ebensogut etwa von Grimmenstein nach Wiener-Neustadt
fahren, das ist wohl weder für Dich noch mich ein großer Unterschied.
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Wie kommt es Milena dass Du noch immer nicht Angst oder Abscheu vor
mir hast oder dergleichen? In was für Tiefen geht Dein Ernst und Deine
Kraft!
Ich lese ein chinesisches Buch, bubácká
kniha ["Gespensterbuch"], deshalb erinnere ich mich daran,
es handelt nur vom Tod. Einer liegt auf dem Sterbebett und in der Unabhängigkeit,
die ihm die Nähe des Todes gibt, sagt er: "mein Leben habe ich
damit verbracht mich gegen die Lust zu wehren es zu beenden". Dann
lacht ein Schüler einen Lehrer aus, der nur vom Tode spricht: "Immerfort
sprichst Du vom Tod und stirbst doch nicht. " "Und doch werde
ich sterben. Ich sage eben meinen Schlußgesang. Des einen Gesang
ist länger, des andern Gesang ist kürzer. Der Unterschied kann
aber immer nur einige Worte ausmachen."
Das ist richtig und es ist unrecht über den Helden zu lächeln,
der mit der Todeswunde auf der Bühne liegt und eine Arie singt. Wir
liegen und singen jahrelang.
Auch "Spiegelmensch" habe ich gelesen. Was
für eine Fülle der Lebenskraft! Nur an einer Stelle ein wenig
angekränkelt, aber dafür ist es überall sonst desto üppiger
und selbst die Krankheit ist üppig. Ich habe es gierig wendegelesen
an einem Nachmittag.
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Was ist es, was Dich jetzt "dort" quält? Ich dachte früher
immer, ich sei dem gegenüber ohnmächtig, das bin ich aber erst
jetzt. Auch bist Du so oft krank.
1] ein chinesisches Buch: Titel nicht zu ermitteln.
Das in Kafkas Brief nachfolgende Zitat erscheint in leicht abgewandelter
Form in Kafkas "Fragmenten". Vgl. "Hochzeitsvorbereitungen",
S. 338.
2] "Spiegelmensch": Franz Werfel, "Spiegelmensch.
Magische Trilogie" (München: Kurt Wolff, 1920).
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at