Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

 

An Milena Jesenská

[Prag, September 1920]
 


Ja, Mizzi Kuh war hier, es ist ganz gut gewesen. Ich werde aber, wenn es nur irgendwie möglich ist, nichts mehr über andere Menschen schreiben, ihre Einmischung in unsere Briefe hat alles verschuldet. Aber nicht deshalb werde ich von ihnen nicht mehr schreiben (sie haben ja nichts verschuldet sondern nur der Wahrheit und dem was ihr folgen will eine Gasse gemacht) ich will sie nicht damit strafen falls das für sie als eine Strafe angesehen werden könnte, sondern es scheint mir nur dass sie nicht mehr her passen. Es ist Dunkel hier, eine dunkle Wohnung, in der sich nur Einheimische, und die mit Schwierigkeit, zurechtfinden.


---------


Ob ich wußte dass es vorübergehn wird? Ich wußte dass es nicht vorübergehn wird.

Als Kind wenn ich etwas sehr Schlechtes angestellt hatte, nichts Schlechtes oder nichts allzu Schlechtes im öffentlichen Sinn, aber etwas sehr Schlechtes in meinem privaten Sinn (dass es keine öffentliche Schlechtigkeit war, war nicht mein Verdienst, sondern Blindheit oder Schlafen der Welt) dann war ich sehr erstaunt, dass alles seinen Gang unverändert weitergieng, die Großen, allerdings ein wenig verdüstert, aber sonst unverändert um mich herumgingen und ihr Mund, dessen Ruhe und selbstverständliche Geschlossenheit ich seit meiner frühesten Kindheit immer von untenher bewundert habe, auch weiterhin geschlossen blieb. Aus dem allen schloß ich, nachdem ich es ein Weilchen lang beobachtet hatte, dass ich doch offenbar nichts Schlimmes, in keinem Sinn, gemacht haben könne, dass es ein kindlicher Irrtum sei das zu fürchten und dass ich daher wieder genau dort anfangen könne, wo ich im ersten Schrecken aufgehört hatte.

Später änderte sich allmählich diese Auffassung der Umwelt. Erstens fing ich zu glauben an, dass die andern sehr gut alles merken, ja dass sie auch ihre Meinung deutlich genug äußern und dass nur ich bisher keinen genügend scharfen Blick dafür gehabt hätte, den ich nun sehr schnell bekam. Zweitens aber schien mir die Unerschütterlichkeit der andern, selbst wenn sie vorhanden sein sollte, zwar noch immer erstaunlich, aber kein Beweis mehr, der für mich sprach. Gut, sie merkten also nichts, in ihre Welt ging nichts von meinem Wesen, bei ihnen war ich unbescholten, der Weg meines Wesens, mein Weg ging also außerhalb ihrer Welt; war dieses Wesen ein Strom, dann ging zumindest ein starker Arm außerhalb ihrer Welt.


---------


Nein Milena ich bitte Dich doch sehr, eine andere Möglichkeit des Schreibens zu erfinden. Du sollst nicht vergeblich zur Post gehn, nicht einmal Dein kleiner Briefträger - wo ist er? - soll es tun, nicht einmal das Postfräulein soll überflüssig gefragt werden. Findest Du keine andere Möglichkeit, dann muß man sich fügen, aber streng Dich wenigstens an, eine zu finden.


---------


Gestern habe ich von Dir geträumt. Was im einzelnen geschehen ist, weiß ich kaum mehr, nur das weiß ich noch, dass wir immerfort ineinander übergingen, ich war Du, Du warst ich. Schließlich fingst Du irgendwie Feuer, ich erinnerte mich, dass man mit Tüchern das Feuer erstickt, nahm einen alten Rock und schlug Dich damit. Aber wieder fingen die Verwandlungen an und es ging so weit, dass Du gar nicht mehr da warst, sondern ich war es, der brannte und ich war es auch, der mit dem Rock schlug. Aber das Schlagen half nichts und es bestätigte sich nur meine alte Befürchtung, dass solche Dinge gegen das Feuer nichts

ausrichten können. Inzwischen aber war die Feuerwehr gekommen und Du wurdest doch noch irgendwie gerettet. Aber anders warst Du als früher, geisterhaft, mit (. . .) [ein Wort unleserlich gemacht] Kreide ins Dunkel gezeichnet und fielst mir, leblos oder vielleicht nur ohnmächtig aus Freude über die Rettung in die Arme. Aber auch hier wirkte die Unsicherheit der Verwandelbarkeit mit, vielleicht war ich es, der in irgendjemandes Arme fiel.


---------


Jetzt war Paul Adler hier, kennst Du ihn? Wenn nur die Besuche aufhören wollten, alle Menschen sind so ewig lebendig, wirklich unsterblich, nicht in der Richtung der wirklichen Unsterblichkeit vielleicht, aber in die Tiefe ihres augenblicklichen Lebens hinab. Ich habe solche Angst vor ihnen. Jeden Wunsch möchte ich ihm von den Augen ablesen vor Angst und aus Dankbarkeit ihm die Füße küssen wenn er ohne Aufforderung zu einem Gegenbesuch fortgehn wollte. Allein lebe ich noch, kommt aber ein Besuch, tötet er mich förmlich, um mich dann durch seine Kraft wieder lebendig machen zu können, aber soviel Kraft hat er nicht. Montag soll ich zu ihm kommen, mir schwirrt der Kopf davon.




1] Paul Adler: Der Erzähler Paul Adler (1878-1946).

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at