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An Milena Jesenská

[Prag, 18. September 1920]
 


Du kannst, Milena, nicht genau verstehn, um was es sich handelt oder zum Teil gehandelt hat, ich verstehe es ja selbst nicht, ich zittere unter dem Ausbruch, quäle mich bis an den Irrsinn heran, aber was es ist und was es in der Ferne will, weiß ich nicht. Nur was es in der Nähe will: Stille, Dunkel, Sich-Verkriechen das weiß ich und muß folgen, kann nicht anders.

Es ist ein Ausbruch und geht vorüber und ist zum Teil vorübergegangen, aber die Kräfte, die ihn hervorrufen, zittern immerfort in mir, vorher und nachher, ja mein Leben, mein Dasein besteht aus diesem unterirdischen Drohen, hört es auf, höre ich auch auf, es ist die Art meiner Teilnahme am Leben, hört es auf, gebe ich das Leben auf, so leicht und selbstverständlich, wie man die Augen schließt. War es nicht immer da, seitdem wir einander kennen, und hättest Du nach mir auch nur flüchtig hingesehn, wenn es nicht da gewesen wäre?

Natürlich kann man es nun nicht so wenden und sagen: nun ist es vorüber und ich wäre nichts als still und glücklich und dankbar im neuen Zusammensein. Man darf es nicht sagen, trotzdem es fast wahr ist (durchaus wahr die Dankbarkeit (. . .) [11 Wörter unleserlich gemacht] nur in gewissem Sinn wahr das Glück und niemals wahr die Stille) denn immer werde ich erschrecken, mich am meisten.

Du erwähnst die Verlobungen und ähnliches, gewiß es war sehr einfach, der Schmerz war nicht einfach, aber seine Wirkung. Es war so wie wenn man sein Leben lüderlich hingelebt hätte und nun wäre man plötzlich zur Strafe für alle Lüderlichkeit gefußt worden und nun käme man mit dem Kopf in einen Schraubstock, eine Schraube an die rechte, eine an die linke Schläfe und nun hätte man, während die Schrauben langsam angezogen würden, zu sagen: "Ja, ich bleibe bei dem lüderlichen Leben", oder "Nein, ich lasse es. " Natürlich brüllte man das "Nein" hinaus, dass einem die Lunge sprang.

Du hast auch recht, wenn Du das was ich jetzt getan habe in eine Reihe stellst mit den alten Dingen, ich kann doch nur immer der gleiche sein und das gleiche erleben. Anders ist nur, dass ich schon Erfahrung habe, dass ich mit dem Schreien nicht erst warte, bis man die Schrauben zur Erzwingung des Geständnisses ansetzt, sondern schon zu schreien anfange, wenn man sie heranbringt, ja schon schreie, wenn sich in der Ferne etwas rührt, so überwach ist mein Gewissen geworden - nein nicht überwach, noch lange nicht wach genug. Aber noch etwas ist anders: Dir kann man Beinet- und Deinetwegen die Wahrheit sagen, wie niemandem sonst, ja man kann seine Wahrheit von Dir geraden Wegs erfahren.

Wenn Du aber bitter davon sprichst Milena, dass ich Dich so sehr bat, mich nicht zu verlassen, so tust Du nicht recht. Darin war ich damals nicht anders als heute. Ich lebte von Deinem Blick (das ist noch keine besondere Vergöttlichung Deiner Person, in solchem Blick kannieder göttlich sein) ich hatte keinen eigentlichen Boden unter mir; das fürchtete ich so sehr, ohne es bestimmt zu wissen, ich wußte gar nicht, wie hoch ich über meiner Erde schwebte. Das war nicht gut, weder in meinem noch in Deinem Sinn. Ein Wort Wahrheit, ein Wort unvermeidbarer Wahrheit genügte und riß mich schon ein Stück herunter und wieder ein Wort und wieder ein Stück und schließlich gibt es kein Halten mehr und man stürzt hinunter und es ist dem Gefühl nach noch immer zu langsam. Ich nenne absichtlich keine Beispiele solcher "Wahrheits-Worte", das verwirrt nur und ist nie ganz richtig.


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Bitte Milena erfinde eine andere Möglichkeit wie ich Dir schreiben kann. Verlogene Karten schicken ist zu dumm; welche Bücher ich schicken soll weiß ich auch nicht immer; die Vorstellung endlich dass Du einmal nutzlos zur Post gehst ist unerträglich, erfinde bitte eine andere Möglichkeit.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at