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An Milena Jesenská

[Prag, 14. September 1920]
Dienstag
 

Heute kamen 2 Briefe und die Ansichtskarte. Zögernd habe ich sie geöffnet. Entweder bist Du unbegreiflich gut oder beherrscht Du Dich unbegreiflich, alles spricht für das erste, einiges auch für das zweite.

Ich wiederhole: Du hattest vollständig recht. Und wenn Du - es ist unmöglich - mir etwas gleichwertiges an Rücksichtslosigkeit, Scheuklappen-Verbohrtheit, Kinder-Dummheit, Selbstzufriedenheit und sogar Gleichgültigkeit getan hättest, wie ich Dir durch das Gespräch mit Vlasta, ich wäre besinnungslos geworden, nicht nur für den Augenblick des Telegramms.

Ich habe das Telegramm nur zweimal gelesen, einmal flüchtig als ich es bekam und dann Tage nachher als ich es zerriß.

Es ist schwer zu beschreiben, wie dieses erste Lesen war, es kam so vieles zusammen. Das deutlichste war, dass Du mich schlugst; es fing glaube ich mit " sofort" an, das war der Schlag.

Nein, ich kann heute noch nicht im Einzelnen darüber schreiben, nicht weil ich besonders müde wäre, sondern weil ich "schwer" bin. Das Nichts, von dem ich einmal schrieb, hat mich angeweht.

Das Ganze wäre ja unverständlich, wenn ich alles obige schuldhafter Weise getan zu haben glaubte; dann wäre ich ja mit Recht geschlagen worden. Nein, wir haben beide die Schuld und keiner.

Vielleicht kannst Du Dich nach Überwindung aller berechtigten Widerstände doch mit dem Brief Mastas aussöhnen, den Du in Wien findest. Ich suchte sie gleich nachmittag an dem Telegrammtag in Deines Vaters Wohnung. Unten stand 1 schody [1 Treppe], das hatte ich immer als ersten Stock gedeutet und nun war es ganz oben. Ein junges hübsches lustiges Dienstmädchen öffnete. Vlasta war nicht da, das hatte ich erwartet, aber ich hatte nur etwas tun wollen, auch erfahren wollen, wann sie früh kommt. (Nach einer Aufschrift an der Wohnungstür scheint Dein Vater Herausgeber der Sportovni revue zu sein.) Früh erwartete ich sie dann vor dem Haus, sie gefiel mir noch besser als letzthin, klug, sachlich, offen. Viel mehr als ich Dir telegraphiert habe, habe ich nicht mit ihr gesprochen.

Jarmila war vorvorgestern bei mir im Bureau, sie hatte lange keine Nachricht von Dir, wußte nichts von der Überschwemmung und kam sich nach Dir erkundigen. Es war schon ganz gut. Sie blieb nur ein Weilchen. Deine Bitte wegen ihres Schreibens vergaß ich ihr auszurichten, ich schrieb ihr dann paar Zeilen darüber.

Die Briefe habe ich noch nicht genau gelesen, ich schreibe Dir dann wieder.


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Jetzt kam auch das Telegramm. Wirklich? Wirklich? Und Du schlägst nicht mehr nach mir?

Nein froh kannst Du darüber nicht sein, das ist unmöglich. Es ist ein Augenblickstelegramm wie das vorige und die Wahrheit ist nicht dort, nicht hier, manchmal wenn man früh aufwacht, glaubt man, die Wahrheit sei knapp neben dem Bett, nämlich ein Grab mit paar welken Blumen, offen, zum Aufnehmen bereit.

Ich wage die Briefe kaum zu lesen; ich kann sie nur in Pausen lesen, ich halte den Schmerz beim Lesen der Briefe nicht aus. Milena - und wieder teile ich Dein Haar und schiebe es zur Seite - bin ich ein so böses Tier, böse gegen mich und genau so böse gegen Dich oder ist nicht richtiger das böse, was hinter mir ist und mich hetzt? Aber nicht einmal dass es böse ist, wage ich zu sagen, nur wenn ich Dir schreibe, scheint es mir so und ich sage es.

Sonst ist es wirklich so, wie ich geschrieben habe. Wenn ich Dir schreibe, ist vorher und nachher von Schlaf keine Rede; wenn ich nicht schreibe schlafe ich wenigstens einen oberflächlichsten - stundenweisen Schlaf. Wenn ich nicht schreibe, bin ich nur müde, traurig, schwer; wenn ich schreibe, zerreißt mich Unruhe und Angst. Es ist so, dass wir einander gegenseitig um Mitleid bitten, ich Dich, mich jetzt verkriechen zu dürfen, Du mich - aber dass es möglich ist, ist der allerschrecklichste Widersinn.

Aber wie ist das möglich? fragst Du. Was will ich? Was tue ich?

Es ist etwa so: ich, Waldtier, war ja damals kaum im Wald, lag irgendwo in einer schmutzigen Grube (schmutzig nur infolge meiner Gegenwart, natürlich) da sah ich Dich draußen im Freien, das wunderbarste was ich je gesehen hatte, ich vergaß alles, vergaß mich ganz und gar, stand auf, kam näher, ängstlich zwar in dieser neuen und doch heimatlichen Freiheit, kam aber doch näher, kam bis zu Dir, Du warst so gut, ich duckte mich bei Dir nieder, als ob ich es. dürfte, ich legte das Gesicht in Deine Hand, ich war so glücklich, so stolz, so frei, so mächtig, so zuhause, immer wieder dieses: so zuhause - aber im Grunde war ich doch nur das Tier, gehörte doch nur in den Wald, lebte hier im Freien doch nur durch Deine Gnade, las ohne es zu wissen (denn ich hatte ja alles vergessen) mein Schicksal von Deinen Augen ab. Das konnte nicht dauern. Du mußtest und wenn Du auch mit der gütigsten Hand über mich hinstrichst, Sonderbarkeiten erkennen, die auf den Wald deuteten, auf diesen Ursprung und diese wirkliche Heimat, es kamen die notwendigen, notwendig sich wiederholenden Aussprachen über die "Angst", die mich (und Dich, aber Dich unschuldig) quälten bis auf den bloßen Nerv, es wuchs immer mehr von mir auf, welche unsaubere Plage, überall störendes Hindernis ich für Dich war, das Mißverständnis mit Max rührte daran, in Gmünd war es schon deutlich, dann kam das Jarmila-Verständnis und - Mißverständnis, und schließlich das DummGrob-Gleichgültige bei Vlasta und viele Kleinigkeiten waren dazwischen. Ich erinnerte mich daran wer ich bin, in Deinen Augen las ich keine Täuschung mehr, ich hatte den Traum-Schrecken (irgendwo wo man nicht hingehört, sich aufzuführen, als ob man zuhause sei) diesen Schrecken hatte ich in Wirklichkeit, ich mußte zurück ins Dunkel ich hielt die Sonne nicht aus, ich war verzweifelt, wirklich wie ein irregegangenes Tier, ich fing zu laufen an wie ich nur konnte und immerfort der Gedanke: "wenn ich sie mitnehmen könnte!" und der Gegengedanke: "gibt es Dunkel, wo sie ist?"

Du fragst wie ich lebe; so also lebe ich.


am linken Rand der zweiten Briefseite (Beschriftung von Das Ganze bis mit ihr gesprochen): Die Befürchtungen wegen Deines Vaters kann ich zum Teil widerlegen, nächstens.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at