Voriger Eintrag | Jahresübersicht | Indexseite | Nächster Eintrag |
An Milena Jesenská
Heute kamen 2 Briefe und die Ansichtskarte. Zögernd habe ich sie geöffnet.
Entweder bist Du unbegreiflich gut oder beherrscht Du Dich unbegreiflich,
alles spricht für das erste, einiges auch für das zweite.
Ich wiederhole: Du hattest vollständig recht. Und wenn Du - es ist
unmöglich - mir etwas gleichwertiges an Rücksichtslosigkeit,
Scheuklappen-Verbohrtheit, Kinder-Dummheit, Selbstzufriedenheit und sogar
Gleichgültigkeit getan hättest, wie ich Dir durch das Gespräch
mit Vlasta, ich wäre besinnungslos geworden, nicht nur für den
Augenblick des Telegramms.
Ich habe das Telegramm nur zweimal gelesen, einmal flüchtig als ich
es bekam und dann Tage nachher als ich es zerriß.
Es ist schwer zu beschreiben, wie dieses erste Lesen war, es kam so vieles
zusammen. Das deutlichste war, dass Du mich schlugst; es fing glaube
ich mit " sofort" an, das war der Schlag.
Nein, ich kann heute noch nicht im Einzelnen darüber schreiben, nicht
weil ich besonders müde wäre, sondern weil ich "schwer"
bin. Das Nichts, von dem ich einmal schrieb, hat mich angeweht.
Das Ganze wäre ja unverständlich, wenn ich alles obige schuldhafter
Weise getan zu haben glaubte; dann wäre ich ja mit Recht geschlagen
worden. Nein, wir haben beide die Schuld und keiner.
Vielleicht kannst Du Dich nach Überwindung aller berechtigten Widerstände
doch mit dem Brief Mastas aussöhnen, den Du in Wien findest. Ich suchte
sie gleich nachmittag an dem Telegrammtag in Deines Vaters Wohnung. Unten
stand 1 schody [1 Treppe], das hatte ich immer als ersten Stock gedeutet
und nun war es ganz oben. Ein junges hübsches lustiges Dienstmädchen
öffnete. Vlasta war nicht da, das hatte ich erwartet, aber ich hatte
nur etwas tun wollen, auch erfahren wollen, wann sie früh kommt. (Nach
einer Aufschrift an der Wohnungstür scheint Dein Vater Herausgeber
der Sportovni
Jarmila war vorvorgestern bei mir im Bureau, sie hatte lange keine Nachricht
von Dir, wußte nichts von der Überschwemmung und kam sich nach
Dir erkundigen. Es war schon ganz gut. Sie blieb nur ein Weilchen. Deine
Bitte wegen ihres Schreibens vergaß ich ihr auszurichten, ich schrieb
ihr dann paar Zeilen darüber.
Die Briefe habe ich noch nicht genau gelesen, ich schreibe Dir dann wieder.
----------
Jetzt kam auch das Telegramm. Wirklich? Wirklich? Und Du schlägst
nicht mehr nach mir?
Nein froh kannst Du darüber nicht sein, das ist unmöglich. Es
ist ein Augenblickstelegramm wie das vorige und die Wahrheit ist nicht
dort, nicht hier, manchmal wenn man früh aufwacht, glaubt man, die
Wahrheit sei knapp neben dem Bett, nämlich ein Grab mit paar welken
Blumen, offen, zum Aufnehmen bereit.
Ich wage die Briefe kaum zu lesen; ich kann sie nur in Pausen lesen, ich
halte den Schmerz beim Lesen der Briefe nicht aus. Milena - und wieder
teile ich Dein Haar und schiebe es zur Seite - bin ich ein so böses
Tier, böse gegen mich und genau so böse gegen Dich oder ist nicht
richtiger das böse, was hinter mir ist und mich hetzt? Aber nicht
einmal dass es böse ist, wage ich zu sagen, nur wenn ich Dir
schreibe, scheint es mir so und ich sage es.
Sonst ist es wirklich so, wie ich geschrieben habe. Wenn ich Dir schreibe,
ist vorher und nachher von Schlaf keine Rede; wenn ich nicht schreibe schlafe
ich wenigstens einen oberflächlichsten - stundenweisen Schlaf. Wenn
ich nicht schreibe, bin ich nur müde, traurig, schwer; wenn ich schreibe,
zerreißt mich Unruhe und Angst. Es ist so, dass wir einander
gegenseitig um Mitleid bitten, ich Dich, mich jetzt verkriechen zu dürfen,
Du mich - aber dass es möglich ist, ist der allerschrecklichste
Widersinn.
Aber wie ist das möglich? fragst Du. Was will ich? Was tue ich?
Es ist etwa so: ich, Waldtier, war ja damals kaum im Wald, lag irgendwo
in einer schmutzigen Grube (schmutzig nur infolge meiner Gegenwart, natürlich)
da sah ich Dich draußen im Freien, das wunderbarste was ich je gesehen
hatte, ich vergaß alles, vergaß mich ganz und gar, stand auf,
kam näher, ängstlich zwar in dieser neuen und doch heimatlichen
Freiheit, kam aber doch näher, kam bis zu Dir, Du warst so gut, ich
duckte mich bei Dir nieder, als ob ich es. dürfte, ich legte das Gesicht
in Deine Hand, ich war so glücklich, so stolz, so frei, so mächtig,
so zuhause, immer wieder dieses: so zuhause - aber im Grunde war ich doch
nur das Tier, gehörte doch nur in den Wald, lebte hier im Freien doch
nur durch Deine Gnade, las ohne es zu wissen (denn ich hatte ja alles vergessen)
mein Schicksal von Deinen Augen ab. Das konnte nicht dauern. Du mußtest
und wenn Du auch mit der gütigsten Hand über mich hinstrichst,
Sonderbarkeiten erkennen, die auf den Wald deuteten, auf diesen Ursprung
und diese wirkliche Heimat, es kamen die notwendigen, notwendig sich wiederholenden
Aussprachen über die "Angst", die mich (und Dich, aber
Dich unschuldig) quälten bis auf den bloßen Nerv, es wuchs immer
mehr von mir auf, welche unsaubere Plage, überall störendes Hindernis
ich für Dich war, das Mißverständnis mit Max rührte
daran, in Gmünd war es schon deutlich, dann kam das Jarmila-Verständnis
und - Mißverständnis, und schließlich das DummGrob-Gleichgültige
bei Vlasta und viele Kleinigkeiten waren dazwischen. Ich erinnerte mich
daran wer ich bin, in Deinen Augen las ich keine Täuschung mehr, ich
hatte den Traum-Schrecken (irgendwo wo man nicht hingehört, sich aufzuführen,
als ob man zuhause sei) diesen Schrecken hatte ich in Wirklichkeit, ich
mußte zurück ins Dunkel ich hielt die Sonne nicht aus, ich war
verzweifelt, wirklich wie ein irregegangenes Tier, ich fing zu laufen an
wie ich nur konnte und immerfort der Gedanke: "wenn ich sie mitnehmen
könnte!" und der Gegengedanke: "gibt es Dunkel, wo sie
ist?"
Du fragst wie ich lebe; so also lebe ich.
am linken Rand der zweiten Briefseite (Beschriftung von Das Ganze
bis mit ihr gesprochen): Die Befürchtungen wegen Deines Vaters
kann ich zum Teil widerlegen, nächstens.
Dienstag
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at