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An Milena Jesenská

[Prag, 7. September 1920]
Dienstag
 

Mißverständnis - nein es ist schlimmer als ein bloßes Mißverständnis - durch und durch, Milena, wenn Du natürlich auch die Oberfläche richtig verstehst, aber was ist hier zu verstehn oder nicht zu verstehn. Es ist ein Mißverständnis, das immer wiederkehrt, das es schon in Meran ein- zweimal gab. Ich bat doch [ . . . ] [2 Wörter unleserlich gemacht] nicht Dich um Rat, so wie ich etwa den Mann dort am Schreibtisch mir gegenüber um Rat bitten würde. Ich sprach mit mir, ich bat mich um Rat, im guten Schlaf, und Du weckst mich.

Sonst ist darüber nichts zu sagen, die Jarmila-Angelegenheitist wende und endgültig, wie ich Dir gestern schrieb vielleicht bekommst Du den Brief noch. Der Brief den Du mir schickst, ist allerdings von Jarmila.

[ . . . ], [aus Gründen des Persönlichkeitsrechtes gestrichen]

 

 

 

Wie ich sie um das bitten soll, was Du willst weiß ich nicht, ich werde sie doch kaum mehr sehn, kaum mehr ihr schreiben und eigens ihr dieses schreiben -?


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Das gestrige Telegramm verstand ich auch dahin, dass ich Stras nicht mehr schreiben muß. Hoffentlich verstand ich es richtig.


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Mit Max sprach ich gestern nochmals über die Tribuna. Er kann sich (parteipolitisch) nicht entschließen etwas in der Tribuna erscheinen zu lassen. Aber sag mir nur, warum Du etwas Jüdisches haben willst und ich kann Dir vieles andere nennen oder schicken.


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Ich weiß nicht ob Du meine Bemerkung über den Bolschewismus-Aufsatz richtig verstanden hast. Das was der Verfasser dort aussetzt, ist für mich das höchste auf Erden mögliche Lob.


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Des Janowitz Adresse für den Fall, dass Du den letzten Brief nicht bekommen hättest: bei Karl Maier, Berlin W 15 Lietzenburgerstraße 32. - Aber ich habe es Dir ja auch telegraphiert, ich bin so zerstreut.


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Gestern abend war ich mit Přibram beisammen. Alte Zeiten. Er sprach lieb und gut von Dir, gar nicht wie von einem "Dienstmädchen". Wir, Max und ich, waren übrigens sehr schlecht zu ihm, luden ihn zu einem gemeinsamen Abend ein, sprachen harmlos 2 Stunden lang über dies und das und überfielen ihn dann plötzlich (ich sogar als erster) mit der Angelegenheit des Bruders. Er verteidigte sich dann aber glänzend, es war schwer etwas dagegen zu sagen, selbst die Berufung auf einen gewesenen "Patienten" half nicht viel. Zuende ist aber der Versuch noch nicht.


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Wenn man mir gestern abend (als ich um 8 Uhr von der Gasse aus in den Festsaal des Jüdischen Rathauses hineinsah, wo weit über 100 russisch jüdische Auswanderer - sie warten hier auf das amerikanische Visum - untergebracht sind, der Saal ist gedrängt voll wie bei einer Volksversammlung und dann um ½1 in der Nacht sah ich sie alle dort schlafen, einen neben dem andern, auch auf Sesseln schliefen sie ausgestreckt, hie und da hustete jemand oder drehte sich auf die andere Seite um oder ging vorsichtig zwischen den Reihen durch, das elektrische Licht brennt die ganze Nacht) wenn man mir freigestellt hätte, ich könnte sein was ich will, dann hätte ich ein kleiner ostjüdischer Junge sein wollen, im Winkel des Saales, ohne eine Spur von Sorgen, der Vater diskutiert in der Mitte mit den Männern, die Mutter dick eingepackt wühlt in den Reise-fetzen, die Schwester schwätzt mit den Mädchen und kratzt sich in ihrem schönen Haar - und in paar Wochen wird man in Amerika sein. So einfach ist es allerdings nicht, Ruhrfälle sind dort schon vorgekommen, auf der Gasse stehn Leute und schimpfen durch die Fenster herein, selbst unter den Juden ist Streit, zwei sind schon mit Messern auf einander losgegangen. Aber wenn man klein ist, schnell alles überblickt und beurteilt, was kann einem dann geschehn? Und solche Jungen liefen dort genug herum, kletterten über die Matratzen, krochen unter Stühlen durch und lauerten auf das Brot, das ihnen irgendjemand- es ist ein Volk - mit irgendetwas - alles ist eßbar - bestrich.




1] Bolschewismus-Aufsatz: Vgl. Briefvom [29. bis 30. August 1920], S. 238 und Anm. 1 hierzu.


2] Přibram: Ewald Přibram, Kafkas Mitschüler, Studienkollege und Freund gegen Ende seiner Gymnasial- und während seiner Studienzeit an der Prager Universität. Kafka beschreibt ihn als großen Blumenfreund in "Briefe an Felice", S. 333.


3] gewesenen "Patienten": Milena, die ja ebenfalls in Weleslawin gewesen war, der Anstalt, in der sich Přibrams Bruder Karl befand.


4] russisch jüdische Auswanderer: Diese im jüdischen Rathaus untergebrachten Auswanderer erwähnt das "Prager Tagblatt" vom 20.11. 1920 u. a. im Zusammenhang mit den antijüdischen Ausschreitungen vom 16.-19. November 1920.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at