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An Milena Jesenská
Es kamen die Briefe von Sonntag, Montag und eine Karte. Beurteile es richtig,
bitte Milena. Ich sitze hier so abgeschlossen, so weit und verhältnismäßig
doch in Ruhe und es geht mir manches durch den Kopf, Angst, Unruhe und
so schreibe ich es auf, auch wenn es nicht viel Sinn hat, und vergesse,
wenn ich zu Dir spreche, alles, auch Dich und erst wenn wieder zwei solche
Briefe kommen werde ich mir wieder des Ganzen bewußt.
An Vlasta werde ich morgen telephonieren, ich werde von
einem Telephonautomaten telephonieren, von hier aus geht es nicht. Vom
Vater kam gar keine Antwort?
Eines in Deinen Befürchtungen für den Winter verstehe ich nicht
ganz. Wenn Dein Mann so krank ist, gar an 2 Krankheiten und wenn es ernst
ist, so kann er doch nicht ins Bureau gehn, entlassen aber kann er doch
natürlich nicht werden als endgültig angestellter Beamter, wegen
seiner Krankheiten muß er auch sein Leben anders einrichten, dadurch
vereinfacht sich doch alles und wird wenigstens äußerlich leichter,
so traurig sonst auch alles ist.
Aber eine der unsinnigsten Sachen auf diesem Erdenrund ist die ernste Behandlung
der Schuldfrage, so scheint es mir wenigstens. Nicht dass Vorwürfe
gemacht werden scheint mir unsinnig, gewiß wenn man in Not ist macht
man Vorwürfe nach allen Seiten (trotzdem das allerdings nicht die
äußerste Not ist, denn in dieser macht man keine Vorwürfe)
auch dass man sich solche Vorwürfe zu Herzen nimmt in einer aufregenden
und alles aufrührenden Zeit, auch das ist begreiflich, aber dass
man darüber verhandeln zu können glaubt, wie über irgendeine
gewöhnliche rechnerische Angelegenheit, die so klar ist, dass
sie Konsequenzen für das tägliche Verhalten ergibt, das verstehe
ich gar nicht. Gewiß bist Du schuld, aber dann ist auch Dein Mann
schuld und dann wieder Du und dann wieder er wie eben bei einem menschlichen
Zusammenleben es nicht anders sein kann und die Schuld häuft sich
an in unendlicher Reihe bis zur grauen Erbsünde, aber was kann es
mir für meinen heutigen Tag oder für den Besuch beim Ischler
Arzt nützen in der ewigen Sünde herumzustöbern?
Und immerfort regnet es draußen und will gar nicht aufhören.
Mir macht das gar nichts, ich sitze im Trokkenen und schäme mich bloß
mein reiches Gabelfrühstück aufzuessen vor dem Anstreicher, der
jetzt gerade vor meinen Fenstern im Hängegerüst steht und wütend
über den Regen der ein wenig aufgehört hat und über die
Menge Butter die ich auf das Brot streiche unnötigerweise die Fenster
bespritzt, wobei auch das nur Einbildung ist und er sich wahrscheinlich
100mal weniger um mich kümmert als ich um ihn. Nein, jetzt arbeitet
er wirklich im Gußregen und Gewitter.
Von Weiß habe ich nachträglich noch gehört, dass er
wahrscheinlich nicht krank ist, aber ohne Geld, wenigstens war es im Sommer
so, da ist in Franzensbad für ihn gesammelt worden. Geantwortet habe
ich ihm vor etwa 3 Wochen, rekommandiert-in den Schwarzwald allerdings
- noch ehe ich von der Sache gehört habe. Geantwortet hat er nicht.
Jetzt ist er am Starnberger See mit seiner Freundin, die
an Baum zwar trübe ernste (so ist ihr Wesen) aber
nicht eigentlich unglückliche (das gehört allerdings auch zu
ihrem Wesen) Karten schreibt. Ehe sie von Prag wegfuhr (wo sie sehr viel
Teatererfolg hatte) etwa vor einem Monat habe ich flüchtig mit ihr
gesprochen. Sie sah elend aus, ist überhaupt schwach und zart aber
unzerbrechlich, war überarbeitet vom Teaterspielen. Weiß erwähnte
sie etwa so: "Jetzt ist er im Schwarzwald, dort geht es ihm nicht
gut, jetzt werden aber wir am Starnberger See zusammensein, dann wird es
besser werden. "
Ja, Landauer erscheint im Knien, die zweite Fortsetzung
habe ich noch nicht genau gelesen, heute erscheint die dritte und letzte.
Die Jarmila-Angelegenheit ist heute viel weniger wichtig als gestern, ihr
zweites Kommen hat mich nur erschreckt; ich werde ihr wahrscheinlich weder
schreiben noch den Besuch machen. Merkwürdig ist das überzeugte
Gefühl das man ihr gegenüber hat dass sie was sie tut nicht
für ihre schwache arme Person tut, sondern in einem Auftrag, keinem
menschlichen.
1] Vlasta: Assistentin Professor Jesenskýs.
Vgl. Brief vom [19. bis 23. August 1920], Freitag, Anm. 2.
2] mit seiner Freundin: Die Schauspielerin Rahel
Sanzara [eigtl. Johanna Bleschke] gab 1920 mehrere Gastspiele im Deutschen
Landestheater Prag; sie trat in einer Reihe von Wedekind-Stücken auf.
3] Baum: Der zu dem engen Freundeskreis Kafkas gehörende
blinde Dichter Oskar Baum (1883-1941).
4] Landauer . . . im Knien: Vgl. Brief vom [24.
Juli 1920], Anm. 2.
Donnerstag
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at