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An Milena Jesenská

[Prag, 2. September 1920]
Donnerstag
 

Es kamen die Briefe von Sonntag, Montag und eine Karte. Beurteile es richtig, bitte Milena. Ich sitze hier so abgeschlossen, so weit und verhältnismäßig doch in Ruhe und es geht mir manches durch den Kopf, Angst, Unruhe und so schreibe ich es auf, auch wenn es nicht viel Sinn hat, und vergesse, wenn ich zu Dir spreche, alles, auch Dich und erst wenn wieder zwei solche Briefe kommen werde ich mir wieder des Ganzen bewußt.

An Vlasta werde ich morgen telephonieren, ich werde von einem Telephonautomaten telephonieren, von hier aus geht es nicht. Vom Vater kam gar keine Antwort?

Eines in Deinen Befürchtungen für den Winter verstehe ich nicht ganz. Wenn Dein Mann so krank ist, gar an 2 Krankheiten und wenn es ernst ist, so kann er doch nicht ins Bureau gehn, entlassen aber kann er doch natürlich nicht werden als endgültig angestellter Beamter, wegen seiner Krankheiten muß er auch sein Leben anders einrichten, dadurch vereinfacht sich doch alles und wird wenigstens äußerlich leichter, so traurig sonst auch alles ist.

Aber eine der unsinnigsten Sachen auf diesem Erdenrund ist die ernste Behandlung der Schuldfrage, so scheint es mir wenigstens. Nicht dass Vorwürfe gemacht werden scheint mir unsinnig, gewiß wenn man in Not ist macht man Vorwürfe nach allen Seiten (trotzdem das allerdings nicht die äußerste Not ist, denn in dieser macht man keine Vorwürfe) auch dass man sich solche Vorwürfe zu Herzen nimmt in einer aufregenden und alles aufrührenden Zeit, auch das ist begreiflich, aber dass man darüber verhandeln zu können glaubt, wie über irgendeine gewöhnliche rechnerische Angelegenheit, die so klar ist, dass sie Konsequenzen für das tägliche Verhalten ergibt, das verstehe ich gar nicht. Gewiß bist Du schuld, aber dann ist auch Dein Mann schuld und dann wieder Du und dann wieder er wie eben bei einem menschlichen Zusammenleben es nicht anders sein kann und die Schuld häuft sich an in unendlicher Reihe bis zur grauen Erbsünde, aber was kann es mir für meinen heutigen Tag oder für den Besuch beim Ischler Arzt nützen in der ewigen Sünde herumzustöbern?

Und immerfort regnet es draußen und will gar nicht aufhören. Mir macht das gar nichts, ich sitze im Trokkenen und schäme mich bloß mein reiches Gabelfrühstück aufzuessen vor dem Anstreicher, der jetzt gerade vor meinen Fenstern im Hängegerüst steht und wütend über den Regen der ein wenig aufgehört hat und über die Menge Butter die ich auf das Brot streiche unnötigerweise die Fenster bespritzt, wobei auch das nur Einbildung ist und er sich wahrscheinlich 100mal weniger um mich kümmert als ich um ihn. Nein, jetzt arbeitet er wirklich im Gußregen und Gewitter.

Von Weiß habe ich nachträglich noch gehört, dass er wahrscheinlich nicht krank ist, aber ohne Geld, wenigstens war es im Sommer so, da ist in Franzensbad für ihn gesammelt worden. Geantwortet habe ich ihm vor etwa 3 Wochen, rekommandiert-in den Schwarzwald allerdings - noch ehe ich von der Sache gehört habe. Geantwortet hat er nicht. Jetzt ist er am Starnberger See mit seiner Freundin, die an Baum zwar trübe ernste (so ist ihr Wesen) aber nicht eigentlich unglückliche (das gehört allerdings auch zu ihrem Wesen) Karten schreibt. Ehe sie von Prag wegfuhr (wo sie sehr viel Teatererfolg hatte) etwa vor einem Monat habe ich flüchtig mit ihr gesprochen. Sie sah elend aus, ist überhaupt schwach und zart aber unzerbrechlich, war überarbeitet vom Teaterspielen. Weiß erwähnte sie etwa so: "Jetzt ist er im Schwarzwald, dort geht es ihm nicht gut, jetzt werden aber wir am Starnberger See zusammensein, dann wird es besser werden. "

Ja, Landauer erscheint im Knien, die zweite Fortsetzung habe ich noch nicht genau gelesen, heute erscheint die dritte und letzte.

Die Jarmila-Angelegenheit ist heute viel weniger wichtig als gestern, ihr zweites Kommen hat mich nur erschreckt; ich werde ihr wahrscheinlich weder schreiben noch den Besuch machen. Merkwürdig ist das überzeugte Gefühl das man ihr gegenüber hat dass sie was sie tut nicht für ihre schwache arme Person tut, sondern in einem Auftrag, keinem menschlichen.




1] Vlasta: Assistentin Professor Jesenskýs. Vgl. Brief vom [19. bis 23. August 1920], Freitag, Anm. 2.


2] mit seiner Freundin: Die Schauspielerin Rahel Sanzara [eigtl. Johanna Bleschke] gab 1920 mehrere Gastspiele im Deutschen Landestheater Prag; sie trat in einer Reihe von Wedekind-Stücken auf.


3] Baum: Der zu dem engen Freundeskreis Kafkas gehörende blinde Dichter Oskar Baum (1883-1941).


4] Landauer . . . im Knien: Vgl. Brief vom [24. Juli 1920], Anm. 2.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at