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An Milena Jesenská

[Prag, 31. August 1920]
Dienstag
 

Ein Brief von Freitag, wenn Donnerstag keiner geschrieben worden ist, ist es gut, nur verloren soll keiner gehn.


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Das was Du über mich schreibst, ist entsetzlich klug, ich will gar nichts zufügen, es ganz unberührt so stehn lassen. Nur eines, was auch darin steht, will ich noch etwas offener heraussagen: Mein Unglück ist, dass ich alle Menschen -und die für mich ausgezeichnetesten natürlich vor allem - für gut halte, mit dem Verstand, mit dem Herzen für gut halte, (jetzt kam ein Mann herein und ist erschrocken, ich machte nämlich in die Leere hinein ein diese Meinungen ausdrückendes Gesicht) nur irgendwie mein Körper kann es nicht glauben, dass sie, wenn es notwendig sein wird, wirklich gut sein werden, mein Körper fürchtet sich und kriecht lieber, statt die in diesem Sinne wirklich welterlösende Probe abzuwarten, langsam die Wand hinauf.


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Ich fange wieder an Briefe zu zerreißen, gestern abend einen. Du bist sehr unglücklich [. . .] [2 Wörter unleserlich gemacht meinetwegen (anderes wirkt wohl mit, alles wirkt gegenseitig) sag es immer offener. Auf einmal geht es ja nicht, natürlich.


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Gestern war ich beim Arzt. Entgegen meinen Erwartungen findet weder er noch die Waage mich gebessert, allerdings auch nicht verschlechtert. Aber wegfahren muß ich, meint er. Nach der Südschweiz, die er nach meiner Aufklärung gleich als unmöglich erkannte, nannte er sofort, ohne jede Nachhilfe meinerseits, 2 Sanatorien in Niederösterreich als die besten: Sanatorium Grimmenstein (Dr Frankfurter) und Sanatorium Wiener Wald, allerdings weiß er augenblicklich die Poststation weder des einen noch des andern. Könntest Du das vielleicht gelegentlich erfahren, in einer Apotheke, von einem Arzt, in einem Post- oder Telephonverzeichnis? Es eilt nicht. Es ist damit auch nicht gesagt dass ich fahre. Das sind ausschließliche Lungenheilanstalten, Häuser, die in ihrer Gänze Tag und Nacht husten und fiebern, wo man Fleisch essen muß, wo einem gewesene Henker die Arme auskegeln, wenn man sich gegen Injektionen wehrt, und wo bartstreichende jüdische Ärzte zusehn, hart gegen Jud wie Christ.


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In einem der letzten Briefe schriebst Du etwa (ich wage diese letzten Briefe nicht herauszuziehn, vielleicht habe ich es auch beim flüchtigen Lesen mißverstanden, das ist das wahrscheinlichste) dass Deine Sache dort dem völligen Ende zugeht. Wieviel war davon Augenblicks-Leid und wieviel dauernde Wahrheit?


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Ich habe Deinen Brief noch einmal durchgelesen und nehme das " entsetzlich" zurück, es fehlt darin doch manches und manches ist zu viel, es ist also nur einfach klug". Es ist auch sehr schwer für Menschen, mit Gespenstern "Fangen" spielen.


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Du warst mit Blei beisammen? Was macht er? dass das Ganze dumm war glaube ich gern und dass man zwiespältig bleibt, glaube ich auch. Es ist nämlich etwas Schönes dabei, nur ist es etwa 50.000 Meilen weit entfernt und weigert sich zu kommen und, wenn alle Glocken von Salzburg zu läuten anfangen, rückt es aus Vorsicht noch einige tausend Meilen weiter weg.




1] Sanatorium Grimmenstein: ca. 80 km südlich von Wien, Heilanstalt für Erkrankungen der Atmungsorgane, am Südabhang des Hochegg (730 m ü. N. N.) in einem ausgedehnten Waldgebiet gelegen.


2] Sanatorium Wiener Wald: Das ca. 60 km südlich von Wien in Ortmann bei Leobersdorf gelegene Sanatorium.


3] Blei: Der Schriftsteller Franz Blei (1871-1942), Herausgeber mehrerer literarischer Zeitschriften.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at