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An Milena Jesenská

[Prag, 28. August 1920]
 


Du hast auch Kondukteure gern, nicht wahr? Ja der lustige und doch so echt wienerisch abgemagerte Kondukteur damals! Aber es sind gute Leute auch hier; Kinder wollen Kondukteure werden, um auch so mächtig und angesehen zu sein, herumzufahren, auf dem Trittbrett stehn, auch so tief zu Kindern sich hinabbeugen zu dürfen und eine Zange haben sie auch und soviel Tramwayzettel, ich aber möchte, während mich alle diese Möglichkeiten eher abschrecken, Kondukteur sein, um auch so fröhlich und überall teilnehmend zu werden. Einmal ging ich hinter einer langsam fahrenden Elektrischen und der Kondukteur


(Der Dichter ist gekommen, mich aus dem Bureau abzuholen, mag er warten bis ich mit den Kondukteuren fertig bin)

war

auf der hintern Platform weit hinausgebeugt und rief mir etwas zu, was ich im Lärm des Josefsplatzes nicht hörte und machte aufgeregte Bewegungen mit beiden Armen, die mir etwas zeigen sollten aber ich verstand es nicht und dabei fuhr die Elektrische weiter weg und seine Bemühungen wurden immer aussichtsloser endlich verstand ich: die goldene Sicherheitsnadel an meinem Kragen hatte sich gelöst und er hatte mich darauf aufmerksam machen wollen. Daran erinnerte ich mich heute morgens als ich nach dieser Nacht stumpf wie ein invalides Gespenst in die Elektrische stieg, der Kondukteur mir auf 5 K zurückgab, um mich aufzuheitern (nicht gerade um mich aufzuheitern, denn er hatte mich gar nicht angesehn aber um die Luft aufzuheitern) irgendeine freundliche von mir aber überhörte Bemerkung über die Banknoten, die er mir herausgab, machte, worauf ein Herr der neben mir stand um dieser Auszeichnung willen mir auch zulächelte, ich auch nicht anders antworten konnte als durch Lächeln und so alles doch ein wenig besser geworden war. Könnte es doch auch den Regenhimmel über St. Gilgen aufheitern!




1] Der Dichter: Vermutlich Gustav Janouch; vgl. Brief vom [21. Juli 1920], Anm. 4.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at