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An Milena Jesenská
Du hast auch Kondukteure gern, nicht wahr? Ja der lustige und doch so echt
wienerisch abgemagerte Kondukteur damals! Aber es sind gute Leute auch
hier; Kinder wollen Kondukteure werden, um auch so mächtig und angesehen
zu sein, herumzufahren, auf dem Trittbrett stehn, auch so tief zu Kindern
sich hinabbeugen zu dürfen und eine Zange haben sie auch und soviel
Tramwayzettel, ich aber möchte, während mich alle diese Möglichkeiten
eher abschrecken, Kondukteur sein, um auch so fröhlich und überall
teilnehmend zu werden. Einmal ging ich hinter einer langsam fahrenden Elektrischen
und der Kondukteur
(Der Dichter ist gekommen, mich aus dem Bureau abzuholen,
mag er warten bis ich mit den Kondukteuren fertig bin)
war
auf der hintern Platform weit hinausgebeugt und rief mir etwas zu, was
ich im Lärm des Josefsplatzes nicht hörte und machte aufgeregte
Bewegungen mit beiden Armen, die mir etwas zeigen sollten aber ich verstand
es nicht und dabei fuhr die Elektrische weiter weg und seine Bemühungen
wurden immer aussichtsloser endlich verstand ich: die goldene Sicherheitsnadel
an meinem Kragen hatte sich gelöst und er hatte mich darauf aufmerksam
machen wollen. Daran erinnerte ich mich heute morgens als ich nach dieser
Nacht stumpf wie ein invalides Gespenst in die Elektrische stieg, der Kondukteur
mir auf 5 K zurückgab, um mich aufzuheitern (nicht gerade um mich
aufzuheitern, denn er hatte mich gar nicht angesehn aber um die Luft aufzuheitern)
irgendeine freundliche von mir aber überhörte Bemerkung über
die Banknoten, die er mir herausgab, machte, worauf ein Herr der neben
mir stand um dieser Auszeichnung willen mir auch zulächelte, ich auch
nicht anders antworten konnte als durch Lächeln und so alles doch
ein wenig besser geworden war. Könnte es doch auch den Regenhimmel
über St. Gilgen aufheitern!
1] Der Dichter: Vermutlich Gustav Janouch; vgl.
Brief vom [21. Juli 1920], Anm. 4.
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at