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An Milena Jesenská

[Prag, 26. bis 27. August 1920]
Donnerstag abend
 

Heute habe ich kaum etwas anderes gemacht, als dagesessen, ein wenig hier ein wenig dort gelesen, hauptsächlich aber nichts gemacht oder einem ganz leichten Schmerz zugehört, wie er in den Schläfen arbeitet. Den ganzen Tag war ich mit Deinen Briefen beschäftigt in Qual, in Liebe, in Sorge und in ganz unbestimmter Angst vor Unbestimmtem, dessen Unbestimmtheit hauptsächlich darin besteht, dass es maßlos über meine Kräfte hinausgeht. Dabei habe ich die Briefe zum zweitenmal noch gar nicht zu lesen gewagt und eine halbe Seite auch zum ersten Mal noch nicht. Warum kann man sich nicht damit abfinden, dass in dieser ganz besondern, hinhaltend selbstmörderischen Spannung zu leben das Richtige ist (Du erwähntest manchmal etwas Ähnliches, ich versuchte Dich damals auszulachen) sondern lockert sie mutwillig, fährt aus ihr hinaus wie ein unvernünftiges Tier (und liebt gar noch wie ein Tier diese Unvernunft) und leitet sich dadurch alle gestörte, wild gewordene Elektricität in den Leib, dass es einen fast verbrennt.

Was ich damit eigentlich sagen will, weiß ich nicht genau, nur auffangen möchte ich irgendwie die Klagen, nicht die wörtlichen, aber die verschwiegenen, die aus Deinen Briefen kommen, und ich kann es, denn es sind im Grunde die meinen. Das wir auch hier im Dunkel so einig sein sollten, ist das sonderbarste und ich kann es förmlich nur jeden zweiten Augenblick glauben.


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Freitag

Die Nacht habe ich statt mit Schlafen, (nicht ganz freiwillig allerdings) mit den Briefen verbracht. Trotzdem ist es jetzt noch nicht am allerschlimmsten. Allerdings ist kein Brief gekommen, aber auch das macht an sich nichts. Es ist jetzt viel besser nicht täglich zu schreiben; Du hast es im Geheimen früher eingesehen als ich. Die täglichen Briefe schwächen statt zu stärken; früher trank man den Brief aus und war gleichzeitig (ich rede von Prag nicht von Meran) zehnmal stärker und zehnmal durstiger geworden. Jetzt aber ist es so ernst, jetzt beißt man sich in die Lippen, wenn man den Brief liest und nichts ist so sicher, als der kleine Schmerz in den Schläfen. Aber auch das mag sein, nur eines: nicht krank werden Milena, nicht krank werden. Nichtschreiben ist gut; (wie viel Tage brauche ich denn um mit a solchen Briefen fertig zu werden wie den gestrigen? Dumme Frage, kann man in Tagen damit fertig werden?) aber kranksein soll nicht die Ursache sein. Ich denke ja dabei nur an mich. Was würde ich tun? Höchstwahrscheinlich das was ich jetzt tue, aber wie würde ich es tun? Nein, daran will ich nicht denken. Und dabei habe ich, wenn ich an Dich denke, als klarste Vorstellung immer die, dass Du im Bett liegst, so wie Du etwa in Gmünd am Abend auf der Wiese lagst (dort wo ich Dir von meinem Freund erzählte und Du wenig zuhörtest). Und das ist gar keine quälende Vorstellung, sondern eigentlich das Beste was ich jetzt zu denken imstande bin, dass Du im Bett liegst, ich Dich ein wenig pflege, hin und wiederkomme, die Hand Dir auf die Stirn lege, in Deinen Augen versinke, wenn ich auf Dich hinabsehe, Deinen Blick auf mir fühle, wenn ich im Zimmer herumgehe und immerfort mit einem gar nicht mehr zu bändigendem Stolz es weiß, dass ich für Dich lebe, dass ich es so darf und dass ich also anfange dafür zu danken, dass Du einmal bei mir stehn geblieben bist und mir die Hand gereicht hast. Und es wäre ja auch nur eine Krankheit die bald vorüber geht und Dich gesünder macht als Du früher warst und Dich wieder groß aufstehn läßt, während ich mich bald und einmal und hoffentlich ohne Lärm und Schmerz unter die Erde verkrieche. Also das quält gar nicht, aber die Vorstellung dass Du in der Ferne krank wirst -


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Hier ist das Inserat, es hätte wohl ein wenig scharfsinniger und verständlicher gemacht werden können, besonders die "Wiener Handels- und Sprachschulen" stehn dort verlassen und sinnlos; den Beistrich nach Lehrerin habe allerdings ich nicht gemacht. Sag übrigens was Du verbessert haben willst und ich lasse es nächstens abändern. Vorläufig ist es also am 26 erschienen und erscheint zunächst am 1, 5 und 12.


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Max kann also wirklich nicht vermitteln. Tycho Brahe ist zwar bei Topič erschienen, seitdem hätte aber auch noch eine jüdisch-politische Broschüre dort erscheinen sollen, die schon angenommen war, dann aber wieder wegen Papiermangel, Druckkosten u. s. w. abgelehnt wurde. Eigentlich ist er also mit Topič zerzankt.




1] Inserat: Vgl. Brief vom [19. bis 23. August 1920] Freitag, Anm. 1.


2] Tycho Brahe: Max Brod, "Tycho Brahes Weg zu Gott" (Leipzig: Kurt Wolff, 1915). Die tschechische Übersetzung dieses Romans von A. Wenig: "Tychona Brahe cesta k Bohu" war 1917 im Verlag F. Topič erschienen.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at