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An Milena Jesenská

[Prag, 26. August 1920]
Donnerstag
 

Ich habe erst den Bleistiftbrief gelesen, in dem Montagsbrief nur flüchtig eine unterstrichene Stelle, da habe ich es lieber noch gelassen; wie ängstlich bin ich und wie schlecht ist es, dass man sich nicht in jedes Wort hineinwerfen kann mit allem was man ist, so dass man wenn dieses Wort angegriffen würde, in seiner Gänze sich wehren könnte oder in seiner Gänze vernichtet würde. Aber es gibt eben auch hier nicht nur Tod, sondern auch Krankheiten.

Noch ehe ich den Brief wendegelesen hatte, - Du schreibst zum Schluß etwas ähnliches - fiel mir ein ob es nicht möglich wäre, dass Du noch ein wenig länger dort bleibst, solange es der Herbst erlaubt. Wäre es nicht möglich?

Von Salzburg kamen die Briefe schnell, von Gilgen dauert es eine Weile, aber ich habe auch sonst Nachrichten hie und da. Von Polgar Skizzen in der Zeitung, es handelt vom See, ist maßlos traurig und bringt einen in Verlegenheit, weil es noch immer lustig ist nun das ist nicht viel, aber dann stehen Nachrichten da von Salzburg, den Festspielen, dem unsicheren Wetter - das ist auch nicht lustig, Du bist doch zu spät weggefahren; dann lasse ich mir manchmal von Max von Wolfgang und Gilgen erzählen, er war sehr glücklich dort als Junge, es muß in den alten Zeiten besser gewesen sein. Aber das alles wäre nicht viel, wenn nicht die Tribuna wäre, diese Möglichkeit jeden Tag etwas von Dir zu finden und dann das tatsächliche Finden hie und da. Ist es Dir unangenehm wenn ich davon spreche? Aber ich lese es so gern. Und wer soll davon sprechen, wenn nicht ich, Dein bester Leser? Schon früher, ehe Du sagtest, dass Du manchmal beim Schreiben an mich denkst, habe ich es mit mir in Beziehung gefühlt d. h. an mich gedrückt, jetzt seitdem Du es ausdrücklich gesagt hast, bin ich darin fast ängstlicher und wenn ich z. B. von einem Hasen im Schnee lese, sehe ich fast mich selbst dort laufen.

Mit dem Aufsatz von Landauer habe ich eine gute Stunde auf der Sophieninsel verbracht; dass Du aus der Kleinarbeit der Übersetzung heraus zornig warst - es war aber doch auch liebender Zorn - verstehe ich, aber es ist doch schön und wenn es auch vielleicht keinen Schritt tiefer dringt, so schließt es doch wenigstens die Augen, um diesen Schritt zu tun. Merkwürdig übrigens die Gegend, die Dich lockt, die 3 Aufsätze (Claudel, Landauer, Dopisy) gehören doch zusammen. Wie kamst Du zu Landauer? (In diesem Kmen-Heft ist auch das erste gute Original-Stück das ich dort gelesen habe, den Verfassernamen habe ich nicht genau in der Erinnerung Vladislav Vančura oder ähnlich. )


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Nun habe ich doch den andern Brief gelesen, aber eigentlich erst von der Stelle ab: Nechci abys na to odpovídal.[Ich will nicht, dass Du darauf antwortest.] Ich weiß nicht was vor dem steht, aber ich bin heute angesichts Deiner Briefe, die Dich unwiderleglich bestätigen, wie ich Dich im Innersten eingeschlossen trage, bereit, es ungelesen als wahr zu unterschreiben und sollte es bei den fernsten Instanzen gegen mich zeugen. Schmutzig bin ich Milena, endlos schmutzig, darum mache ich ein solches Geschrei mit der Reinheit. Niemand singt so rein, als die welche in der tiefsten Hölle sind; was wir für den Gesang der Engel halten, ist ihr Gesang.


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Ich habe seit paar Tagen mein "Kriegsdienste - oder richtiger "Manöver"leben aufgenommen, wie ich es vor Jahren als für mich zeitweilig bestes entdeckt habe. Nachmittag solange als es geht im Bett schlafen, dann zwei Stunden herumgehn, dann Wachbleiben solange es geht. Aber in diesem "solange es geht" steckt der Haken. "Es geht nicht lange" nicht am Nachmittag, nicht in der Nacht und doch bin ich früh geradezu welk wenn ich ins Bureau komme. Und die eigentliche Beute steckt doch erst in der Tiefe der Nacht in der zweiten, dritten, vierten Stunde; wenn ich aber jetzt nicht spätestens um Mitternacht schlafen gehe, ins Bett gehe, bin ich, ist Nacht und Tag verloren. Trotzdem macht das alles nichts, dieses Im-Dienst-sein ist gut auch ohne alle Ergebnisse. Es wird auch keine haben, ich brauche ein halbes solches Jahr, um mir erst "die Zunge zu lösen" und dann einzusehn, dass es zuende ist, dass die Erlaubnis Im-Dienst-zusein wende ist. Aber wie ich sagte: es ist an sich gut, selbst wenn in längerer oder kürzerer Zeit der Husten tyrannisch dazwischenfährt.

Gewiß, so schlimm waren die Briefe nicht, aber diesen Bleistiftbrief verdiene ich doch nicht. Wo ist überhaupt jemand der ihn verdienen würde, im Himmel und auf Erden?


am linken Rand der ersten Briefseite (Beschriftung bis aber dann): 100 K täglich, so billig, könntest Du nicht länger dort bleiben, in Gilgen, Wolfgang, Salzburg oder anderswo?


am rechten und unteren Rand derselben Seite: Maxens Vermittlung bei Topič halte ich für ausgeschlossen, das ist doch zu ungeschickt von Pick sich hier hinter Max verstecken wollen, mir hat er davon nicht geschrieben, sondern versprochen, selbst etwas zu suchen wenn er nach Prag kommt.


am linken und am oberen Rand der zweiten Briefseite (Beschriftung vo stehen Nachrichten bis aber doch auch): Ja ich wußte, dass ich über etwas hinweggelesen hatte und mich daran, ohne es vergessen zu können, nicht erinnern konnte: Fieber? Wirkliches Fieber? Gemessenes Fieber?


am rechten Rand der dritten Briefseite (Beschriftung von liebender Zorn bis tiefsten Hölle): Baden kann man wohl nicht mehr? Die Ansicht Deiner Wohnung bitte.


am linken und am oberen Rand der letzten Briefseite (Beschriftung ab sind; was): Jarmila hat doch geantwortet, drei Zeilen: dass ihr Brief weder dringend noch wichtig ist und dass sie dankt. Wegen Vlasta warte ich noch auf Deine Nachricht.




1] Von Polgar Skizzen: Alfred Polgar (Wien), "Theodor auf dem Lande", "Prager Tagblatt", 45. Jg., Nr. 199 (24. August 1920), S.2.


2] Hasen im Schnee: Bezieht sich auf Milenas Artikel "Výkladní skříně" [Schaufenster] in der "Tribuna", II. Jg., Nr. 197 (21. 8. 1920), S. 1 f. Darin heißt es, ins Deutsche übertragen: ". . . ich ging täglich an einem Schaufenster vorbei, in dem unter anderen Bildern ein Häschen ausgestellt war. Ein entzückendes Häschen, das über eine Schneefläche zum Wald lief, das weiße Schwänzchen nach oben. Es war so einsam in dieser weißen Welt, und das Schwänzchen verlieh ihm das Aussehen beklemmender Ohnmacht."


3] Aufsatz von Gustav Landauer: Landauer, "Friedrich Hölderlin" übers. von Milena Jesenská, erschien in der literarischen Wochenschrift "Kmen", IV Jg., Nr. 23 (19. 8. 1920), Nr. 24 (26. 8. 1920) und Nr. 25 (2. 9. 1920).


4] Vermittlung bei Topič: Otto Pick, an den sich Milena mit ihrer Anfrage gewandt hatte, hoffte, Max Brod einzuschalten, damit er sich bei dem ihm bekannten Verleger F. Topič für sie verwenden würde. Brod hatte aber, wie sich später zeigte, selber Schwierigkeiten mit dem Verleger und lehnte ab. Vgl. Brief vom [26. bis 27. 8. 1920], S. 232. Milena hatte schon damals im Sinn, einen Sammelband von Erzählungen Kafkas in ihrer Übersetzung zu veröffentlichen. Bereits im Juli 1920 hatte sie in der "Tribuna" anläßlich des Erscheinens ihrer Übersetzung von Kafkas "Unglücklichsein" darauf hingewiesen, dass ein solcher Band in Vorbereitung sei. Dafür suchte sie einen Verleger. Da sie wohl Kafka mit diesem Band überraschen wollte, bat sie Pick, dabei zu helfen, in Prag einen Verleger zu finden.


5] Kmen-Heft: Von Vladislav Vančura (1891-1942) erschien in diesem Heft "Vzpomen si na něco veseláho!" [Erinnere Dich an etwas Lustiges!]; "Kmen", IV. Jg., Nr. 23 (19. August 1920), S. 266 f.


6] "Kriegsdienst" - oder richtiger"Manöver"leben: Kafkas Wiederaufnahme seiner literarischen Arbeit, die seit drei Jahren geruht hatte - des ihm liebsten Schreibens "in der Tiefe der Nacht".


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at