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An Milena Jesenská
Ich habe erst den Bleistiftbrief gelesen, in dem Montagsbrief nur flüchtig
eine unterstrichene Stelle, da habe ich es lieber noch gelassen; wie ängstlich
bin ich und wie schlecht ist es, dass man sich nicht in jedes Wort
hineinwerfen kann mit allem was man ist, so dass man wenn dieses Wort
angegriffen würde, in seiner Gänze sich wehren könnte oder
in seiner Gänze vernichtet würde. Aber es gibt eben auch hier
nicht nur Tod, sondern auch Krankheiten.
Noch ehe ich den Brief wendegelesen hatte, - Du schreibst zum Schluß
etwas ähnliches - fiel mir ein ob es nicht möglich wäre,
dass Du noch ein wenig länger dort bleibst, solange es der Herbst
erlaubt. Wäre es nicht möglich?
Von Salzburg kamen die Briefe schnell, von Gilgen dauert es eine Weile,
aber ich habe auch sonst Nachrichten hie und da. Von Polgar
Skizzen in der Zeitung, es handelt vom See, ist maßlos traurig
und bringt einen in Verlegenheit, weil es noch immer lustig ist nun das
ist nicht viel, aber dann stehen Nachrichten da von Salzburg, den Festspielen,
dem unsicheren Wetter - das ist auch nicht lustig, Du bist doch zu spät
weggefahren; dann lasse ich mir manchmal von Max von Wolfgang und Gilgen
erzählen, er war sehr glücklich dort als Junge, es muß
in den alten Zeiten besser gewesen sein. Aber das alles wäre nicht
viel, wenn nicht die Tribuna wäre, diese Möglichkeit jeden Tag
etwas von Dir zu finden und dann das tatsächliche Finden hie und da.
Ist es Dir unangenehm wenn ich davon spreche? Aber ich lese es so gern.
Und wer soll davon sprechen, wenn nicht ich, Dein bester Leser? Schon früher,
ehe Du sagtest, dass Du manchmal beim Schreiben an mich denkst, habe
ich es mit mir in Beziehung gefühlt d. h. an mich gedrückt, jetzt
seitdem Du es ausdrücklich gesagt hast, bin ich darin fast ängstlicher
und wenn ich z. B. von einem Hasen im Schnee lese, sehe
ich fast mich selbst dort laufen.
Mit dem Aufsatz von Landauer habe ich eine gute Stunde
auf der Sophieninsel verbracht; dass Du aus der Kleinarbeit der Übersetzung
heraus zornig warst - es war aber doch auch liebender Zorn - verstehe ich,
aber es ist doch schön und wenn es auch vielleicht keinen Schritt
tiefer dringt, so schließt es doch wenigstens die Augen, um diesen
Schritt zu tun. Merkwürdig übrigens die Gegend, die Dich lockt,
die 3 Aufsätze (Claudel, Landauer, Dopisy) gehören doch zusammen.
Wie kamst Du zu Landauer? (In diesem Kmen-Heft ist auch
das erste gute Original-Stück das ich dort gelesen habe, den Verfassernamen
habe ich nicht genau in der Erinnerung Vladislav Vančura oder ähnlich.
)
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Nun habe ich doch den andern Brief gelesen, aber eigentlich erst von der
Stelle ab: Nechci abys na to odpovídal.[Ich will nicht, dass
Du darauf antwortest.] Ich weiß nicht was vor dem steht, aber ich
bin heute angesichts Deiner Briefe, die Dich unwiderleglich bestätigen,
wie ich Dich im Innersten eingeschlossen trage, bereit, es ungelesen als
wahr zu unterschreiben und sollte es bei den fernsten Instanzen gegen mich
zeugen. Schmutzig bin ich Milena, endlos schmutzig, darum mache ich ein
solches Geschrei mit der Reinheit. Niemand singt so rein, als die welche
in der tiefsten Hölle sind; was wir für den Gesang der Engel
halten, ist ihr Gesang.
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Ich habe seit paar Tagen mein "Kriegsdienste - oder
richtiger "Manöver"leben aufgenommen, wie ich es vor
Jahren als für mich zeitweilig bestes entdeckt habe. Nachmittag solange
als es geht im Bett schlafen, dann zwei Stunden herumgehn, dann Wachbleiben
solange es geht. Aber in diesem "solange es geht" steckt der
Haken. "Es geht nicht lange" nicht am Nachmittag, nicht in
der Nacht und doch bin ich früh geradezu welk wenn ich ins Bureau
komme. Und die eigentliche Beute steckt doch erst in der Tiefe der Nacht
in der zweiten, dritten, vierten Stunde; wenn ich aber jetzt nicht spätestens
um Mitternacht schlafen gehe, ins Bett gehe, bin ich, ist Nacht und Tag
verloren. Trotzdem macht das alles nichts, dieses Im-Dienst-sein ist gut
auch ohne alle Ergebnisse. Es wird auch keine haben, ich brauche ein halbes
solches Jahr, um mir erst "die Zunge zu lösen" und dann
einzusehn, dass es zuende ist, dass die Erlaubnis Im-Dienst-zusein
wende ist. Aber wie ich sagte: es ist an sich gut, selbst wenn in längerer
oder kürzerer Zeit der Husten tyrannisch dazwischenfährt.
Gewiß, so schlimm waren die Briefe nicht, aber diesen Bleistiftbrief
verdiene ich doch nicht. Wo ist überhaupt jemand der ihn verdienen
würde, im Himmel und auf Erden?
am linken Rand der ersten Briefseite (Beschriftung bis aber dann):
100 K täglich, so billig, könntest Du nicht länger dort
bleiben, in Gilgen, Wolfgang, Salzburg oder anderswo?
am rechten und unteren Rand derselben Seite: Maxens Vermittlung
bei Topič halte ich für ausgeschlossen, das ist doch zu ungeschickt
von Pick sich hier hinter Max verstecken wollen, mir hat er davon nicht
geschrieben, sondern versprochen, selbst etwas zu suchen wenn er nach Prag
kommt.
am linken und am oberen Rand der zweiten Briefseite (Beschriftung vo
stehen Nachrichten bis aber doch auch): Ja ich wußte, dass
ich über etwas hinweggelesen hatte und mich daran, ohne es vergessen
zu können, nicht erinnern konnte: Fieber? Wirkliches Fieber? Gemessenes
Fieber?
am rechten Rand der dritten Briefseite (Beschriftung von liebender
Zorn bis tiefsten Hölle): Baden kann man wohl nicht mehr?
Die Ansicht Deiner Wohnung bitte.
am linken und am oberen Rand der letzten Briefseite (Beschriftung ab
sind; was): Jarmila hat doch geantwortet, drei Zeilen: dass ihr Brief
weder dringend noch wichtig ist und dass sie dankt. Wegen Vlasta warte
ich noch auf Deine Nachricht.
1] Von Polgar Skizzen: Alfred Polgar (Wien), "Theodor
auf dem Lande", "Prager Tagblatt", 45. Jg., Nr. 199 (24.
August 1920), S.2.
2] Hasen im Schnee: Bezieht sich auf Milenas Artikel
"Výkladní skříně" [Schaufenster]
in der "Tribuna", II. Jg., Nr. 197 (21. 8. 1920), S. 1 f. Darin
heißt es, ins Deutsche übertragen: ". . . ich ging täglich
an einem Schaufenster vorbei, in dem unter anderen Bildern ein Häschen
ausgestellt war. Ein entzückendes Häschen, das über eine
Schneefläche zum Wald lief, das weiße Schwänzchen nach
oben. Es war so einsam in dieser weißen Welt, und das Schwänzchen
verlieh ihm das Aussehen beklemmender Ohnmacht."
3] Aufsatz von Gustav Landauer: Landauer, "Friedrich
Hölderlin" übers. von Milena Jesenská, erschien
in der literarischen Wochenschrift "Kmen", IV Jg., Nr. 23 (19.
8. 1920), Nr. 24 (26. 8. 1920) und Nr. 25 (2. 9. 1920).
4] Vermittlung bei Topič: Otto Pick, an den
sich Milena mit ihrer Anfrage gewandt hatte, hoffte, Max Brod einzuschalten,
damit er sich bei dem ihm bekannten Verleger F. Topič für sie
verwenden würde. Brod hatte aber, wie sich später zeigte, selber
Schwierigkeiten mit dem Verleger und lehnte ab. Vgl. Brief vom [26. bis
27. 8. 1920], S. 232. Milena hatte schon damals im Sinn, einen Sammelband
von Erzählungen Kafkas in ihrer Übersetzung zu veröffentlichen.
Bereits im Juli 1920 hatte sie in der "Tribuna" anläßlich
des Erscheinens ihrer Übersetzung von Kafkas "Unglücklichsein"
darauf hingewiesen, dass ein solcher Band in Vorbereitung sei. Dafür
suchte sie einen Verleger. Da sie wohl Kafka mit diesem Band überraschen
wollte, bat sie Pick, dabei zu helfen, in Prag einen Verleger zu finden.
5] Kmen-Heft: Von Vladislav Vančura (1891-1942)
erschien in diesem Heft "Vzpomen si na něco veseláho!"
[Erinnere Dich an etwas Lustiges!]; "Kmen", IV. Jg., Nr. 23
(19. August 1920), S. 266 f.
6] "Kriegsdienst" - oder richtiger"Manöver"leben:
Kafkas Wiederaufnahme seiner literarischen Arbeit, die seit drei Jahren
geruht hatte - des ihm liebsten Schreibens "in der Tiefe der Nacht".
Donnerstag
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at