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An Milena Jesenská
Deine Bitte um Verzeihung verstehe ich nicht. Wenn es vorüber ist,
ist es doch selbstverständlich, dass ich Dir verzeihe. Unerbittlich
war ich nur, solange es nicht vorüber war und da hast Du Dich nicht
darum gekümmert. Wie könnte ich Dir etwas nicht verzeihen, wenn
es vorüber ist! Wie verwirrt muß es in Deinem Kopf sein, dass
Du etwas derartiges glauben kannst.
[. . .] [ca. 6 Wörter unleserlich gemacht
Der Vergleich mit dem Vater, wenigstens im Augenblick, gefällt mir
nicht. Soll ich Dich auch verlieren? (Allerdings habe ich nicht die dazu
gehörigen Kräfte Deines Vaters.) Bestehst Du aber auf dem Vergleich,
dann schick das Trikot lieber zurück.
Der Einkauf und das Wegschicken des Trikots war übrigens eine 3 Stunden
dauernde Geschichte, die michich hatte es damals sehr nötig - wirklich
erfrischt hat und für die ich Dir dankbar bin. Sie zu erzählen,
bin ich heute zu müde, die zweite Nacht kaum geschlafen. Kann ich
mich denn nicht ein wenig zusammennehmen, um in Gmünd ein wenig belobt
zu werden?
Wirklich, Neid gegenüber der Amsterdamer Reisenden? Gewiß ist
es schön, was sie tut, wenn sie es überzeugt tut, aber Du machst
einen logischen Fehler. Für den Menschen, der so lebt, ist sein Leben
Zwang, für den, der nicht so leben kann, wäre es Freiheit. So
ist es doch überall. Ein solcher "Neid" ist letzten Endes
nur Todeswunsch.
Woher kam übrigens "tína, nevolnost, hnus" ["Last
(Belastung, Bedrücktheit), Unbehagen, Unwohlsein"]? Wie war
das mit dem "Neid" vereinbar? Es war auch gar nicht vereinbar.
Nur im Tod ist der Sehnsucht nach das Lebendige vereinbar.
Über das "In-Wien-bleiben" habe ich noch viel hinterlistigere
Dinge gesagt, als die welche Du erwähnst, aber Du hast wohl recht.
Auffällig ist nur dass Dein Vater, meinem Gefühl nach, gegenüber
den früheren Jahren an Macht sehr gewinnt. (Laß Dir also das
Trikot.)
Mit Max halte es wie Du willst. Da ich aber jetzt Deinen Auftrag für
ihn kenne, werde ich, wenn es wende geht, mich zu ihm tragen lassen, einen
mehrtägigen gemeinsamen Ausflug mit ihm besprechen "weil ich
mich besonders kräftig fühle" dann nachhause kriechen und
mich dort zum letzten Mal ausstrecken.
So rede ich allerdings, solange es noch nicht so weit ist. Sobald ich aber
einmal 37.5 habe (bei 38° im Regen!) werden die Telegrammboten auf
Deiner langen Treppe einer über den andern stolpern. Hoffentlich striken
sie dann und nicht zu so unpassender Zeit wie jetzt, am Geburtstag!
Meine Drohung, dass ich dem Mann die Marken nicht geben werde, hat
die Post zu wörtlich genommen. Die Marke vom Expressbrief war schon
abgeklebt, als ich ihn bekam. Du mußt übrigens den Mann richtig
verstehn, er sammelt nicht von jeder Art etwa eine Marke. Er hat für
jede Art große Blätter und für alle Blätter große
Bücher und wenn ein Blatt einer Art voll ist, nimmt er ein neues Blatt
u.s.f. Und darüber sitzt er alle Nachmittage und ist dick und fröhlich
und glücklich. Und bei jeder Art hat er einen neuen Grund zur Freude,
z. B. heute bei den 50 h Marken: jetzt wird das Porto erhöht werden
(arme Milena!) und die 50 h Marken werden seltener werden!
Was Du von Kreuzen sagst gefällt mir gut (Aflenz
nicht, das ist ein wirkliches Lungensanatorium, da gibt es Injektionen,
pfui! für einen Beamten von uns war es eine Station vor dem Lungentod)
solches Land habe ich gern und historische Erinnerungen hat es auch. Aber
ist es auch im späten Herbst noch offen und nimmt man Ausländer
auf und ist es für Ausländer nicht teuerer und wird ein Mensch
außer mir verstehn, warum ich in das Hungerland fahre, um mich zu
mästen? Hinschreiben werde ich aber.
Gestern sprach ich wieder mit jenem Stein. Er ist einer jener Menschen,
denen allgemein Unrecht geschieht. Ich weiß nicht, warum man über
ihn lacht. Er kennt jeden, weiß alles persönliche, ist dabei
bescheiden, seine Urteile sehr vorsichtig, klug abschattiert, respektvoll;
dass sie ein wenig zu deutlich, zu unschuldig eitel sind, vermehrt
doch noch seinen Wert, vorausgesetzt dass man die im Geheimen, die
wollüstig, verbrecherisch Eitlen kennt. Ich fing plötzlich mit
Haas an, schlich mich an Jarmila vorüber, nach einem Weilchen war
ich bei Deinem Mann und schließlich - Es ist übrigens nicht
richtig, dass ich gern von Dir erzählen höre, gar nicht,
nur Deinen Namen möchte ich immer wieder hören, den ganzen Tag.
Wenn ich ihn gefragt hätte, hätte er auch von Dir viel erzählt,
da ich ihn nicht fragte, begnügte er sich mit der ihm aufrichtig leid
tuenden Feststellung, dass Du kaum mehr lebst, zugrundegegangen
durch Kokain (wie dankbar war ich in dem Augenblick dafür, dass
Du am Leben bist). Übrigens fügte er vorsichtig und bescheiden
wie er ist, hinzu, dass er das nicht mit eigenen Augen gesehn, sondern
nur gehört hat. Von Deinem Mann sprach er wie von einem mächtigen
Zauberer. Mit Jarmila, Haas und Reiner will er 2 Tage vor dem Selbstmord
beisammen gewesen sein, Reiner wäre sehr freundlich zu Haas gewesen
und hätte sich Geld von ihm ausgeborgt. Einen mir neuen Namen aus
Deiner Prager Zeit nannte er noch: Kreidlová, glaube
ich. - So hätte er noch lange weitererzählt, aber ich verabschiedete
mich, mir war ein wenig übel, vor mir vor allem, weil ich so stumm
neben ihm ging und Dinge anhörte, die ich nicht hören wollte
und die mich gar nicht kümmerten.
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Ich wiederhole: Wenn es irgendein Hindernis gibt, das irgendein kleines
Leid für Dich zufolge haben könnte, bleib in Wien, wenn
es nicht anders geht, auch ohne mich zu verständigen. - Wenn Du aber
fährst, dann durchbrich gleich die Grenzsperre. Sollte es durch irgendeine
mir jetzt ganz unabsehbare Verrücktheit geschehn, dass ich nicht
fahren und Dich in Wien (ich würde dann an Frau Kohler telegraphieren)
nicht mehr verständigen könnte, liegt in Gmünd im Bahnhofshotel
ein Telegramm für Dich.
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Kamen alle 6 Bücher an?
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Ähnlich wie beim Anhören des Stein war mir beim Lesen der "Kavárna", nur erzählst Du so viel besser
als er; wer erzählt noch so gut? Warum aber erzählst Du jedem
der sich die Tribuna kauft? Während ich es las, war mir als gieng
ich auf und ab vor dem Kaffeehaus, tag und nacht, jahrelang; immer wenn
ein Gast kam oder weggieng, überzeugte ich mich durch die geöffnete
Tür, dass Du noch immer drin warst und dann nahm ich wieder die
Wanderung auf und wartete. Es war weder traurig noch anstrengend. Was für
eine Trauer oder Anstrengung vor dem Kaffeehaus warten, in dem Du sitzt!
1] das Trikot: Vgl. Brief vom [7. August 1920],
S. 193, aus dem hervorgeht, dass sie ein Trikot bei ihm bestellt hatte.
Durch die prompte Erledigung dieses Auftrages empfand sie sich nun von
ihm allzu "väterlich" umsorgt.
2] Kreuzen . . . Aflenz: Bad Kreuzen bei Grein an
der Donau und Aflenz in der Obersteiermark.
3] zugrundegegangen durch Kokain: Tatsächlich
nahm Milena gelegentlich Kokain, um ihre Kopfschmerzen leichter überstehen
zu können.
4] Selbstmord: Josef Reiners Verzweiflungstat. Vgl.
2. Brief vom [12. Juni 1920], S. 58, und Anm. 1 zu diesem Brief.
5] Kreidlová: Amálie Kreidlová,
eine ehemalige Mitschülerin im Mädchengymnasium "Minerva",
Prag.
6] "Kavárna": [Das Kaffeehaus].
Milenas Artikel in der "Tribuna", II. Jg., Nr. 187 (10. 8.
1920), S. 1 f
Mittwoch
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at