Voriger Eintrag Jahresübersicht | IndexseiteNächster Eintrag

 

An Milena Jesenská

[Prag,11 .August 1920]
Mittwoch
 

Deine Bitte um Verzeihung verstehe ich nicht. Wenn es vorüber ist, ist es doch selbstverständlich, dass ich Dir verzeihe. Unerbittlich war ich nur, solange es nicht vorüber war und da hast Du Dich nicht darum gekümmert. Wie könnte ich Dir etwas nicht verzeihen, wenn es vorüber ist! Wie verwirrt muß es in Deinem Kopf sein, dass Du etwas derartiges glauben kannst.

[. . .] [ca. 6 Wörter unleserlich gemacht

Der Vergleich mit dem Vater, wenigstens im Augenblick, gefällt mir nicht. Soll ich Dich auch verlieren? (Allerdings habe ich nicht die dazu gehörigen Kräfte Deines Vaters.) Bestehst Du aber auf dem Vergleich, dann schick das Trikot lieber zurück.

Der Einkauf und das Wegschicken des Trikots war übrigens eine 3 Stunden dauernde Geschichte, die michich hatte es damals sehr nötig - wirklich erfrischt hat und für die ich Dir dankbar bin. Sie zu erzählen, bin ich heute zu müde, die zweite Nacht kaum geschlafen. Kann ich mich denn nicht ein wenig zusammennehmen, um in Gmünd ein wenig belobt zu werden?

Wirklich, Neid gegenüber der Amsterdamer Reisenden? Gewiß ist es schön, was sie tut, wenn sie es überzeugt tut, aber Du machst einen logischen Fehler. Für den Menschen, der so lebt, ist sein Leben Zwang, für den, der nicht so leben kann, wäre es Freiheit. So ist es doch überall. Ein solcher "Neid" ist letzten Endes nur Todeswunsch.

Woher kam übrigens "tína, nevolnost, hnus" ["Last (Belastung, Bedrücktheit), Unbehagen, Unwohlsein"]? Wie war das mit dem "Neid" vereinbar? Es war auch gar nicht vereinbar. Nur im Tod ist der Sehnsucht nach das Lebendige vereinbar.

Über das "In-Wien-bleiben" habe ich noch viel hinterlistigere Dinge gesagt, als die welche Du erwähnst, aber Du hast wohl recht. Auffällig ist nur dass Dein Vater, meinem Gefühl nach, gegenüber den früheren Jahren an Macht sehr gewinnt. (Laß Dir also das Trikot.)

Mit Max halte es wie Du willst. Da ich aber jetzt Deinen Auftrag für ihn kenne, werde ich, wenn es wende geht, mich zu ihm tragen lassen, einen mehrtägigen gemeinsamen Ausflug mit ihm besprechen "weil ich mich besonders kräftig fühle" dann nachhause kriechen und mich dort zum letzten Mal ausstrecken.

So rede ich allerdings, solange es noch nicht so weit ist. Sobald ich aber einmal 37.5 habe (bei 38° im Regen!) werden die Telegrammboten auf Deiner langen Treppe einer über den andern stolpern. Hoffentlich striken sie dann und nicht zu so unpassender Zeit wie jetzt, am Geburtstag!

Meine Drohung, dass ich dem Mann die Marken nicht geben werde, hat die Post zu wörtlich genommen. Die Marke vom Expressbrief war schon abgeklebt, als ich ihn bekam. Du mußt übrigens den Mann richtig verstehn, er sammelt nicht von jeder Art etwa eine Marke. Er hat für jede Art große Blätter und für alle Blätter große Bücher und wenn ein Blatt einer Art voll ist, nimmt er ein neues Blatt u.s.f. Und darüber sitzt er alle Nachmittage und ist dick und fröhlich und glücklich. Und bei jeder Art hat er einen neuen Grund zur Freude, z. B. heute bei den 50 h Marken: jetzt wird das Porto erhöht werden (arme Milena!) und die 50 h Marken werden seltener werden!

Was Du von Kreuzen sagst gefällt mir gut (Aflenz nicht, das ist ein wirkliches Lungensanatorium, da gibt es Injektionen, pfui! für einen Beamten von uns war es eine Station vor dem Lungentod) solches Land habe ich gern und historische Erinnerungen hat es auch. Aber ist es auch im späten Herbst noch offen und nimmt man Ausländer auf und ist es für Ausländer nicht teuerer und wird ein Mensch außer mir verstehn, warum ich in das Hungerland fahre, um mich zu mästen? Hinschreiben werde ich aber.

Gestern sprach ich wieder mit jenem Stein. Er ist einer jener Menschen, denen allgemein Unrecht geschieht. Ich weiß nicht, warum man über ihn lacht. Er kennt jeden, weiß alles persönliche, ist dabei bescheiden, seine Urteile sehr vorsichtig, klug abschattiert, respektvoll; dass sie ein wenig zu deutlich, zu unschuldig eitel sind, vermehrt doch noch seinen Wert, vorausgesetzt dass man die im Geheimen, die wollüstig, verbrecherisch Eitlen kennt. Ich fing plötzlich mit Haas an, schlich mich an Jarmila vorüber, nach einem Weilchen war ich bei Deinem Mann und schließlich - Es ist übrigens nicht richtig, dass ich gern von Dir erzählen höre, gar nicht, nur Deinen Namen möchte ich immer wieder hören, den ganzen Tag. Wenn ich ihn gefragt hätte, hätte er auch von Dir viel erzählt, da ich ihn nicht fragte, begnügte er sich mit der ihm aufrichtig leid tuenden Feststellung, dass Du kaum mehr lebst, zugrundegegangen durch Kokain (wie dankbar war ich in dem Augenblick dafür, dass Du am Leben bist). Übrigens fügte er vorsichtig und bescheiden wie er ist, hinzu, dass er das nicht mit eigenen Augen gesehn, sondern nur gehört hat. Von Deinem Mann sprach er wie von einem mächtigen Zauberer. Mit Jarmila, Haas und Reiner will er 2 Tage vor dem Selbstmord beisammen gewesen sein, Reiner wäre sehr freundlich zu Haas gewesen und hätte sich Geld von ihm ausgeborgt. Einen mir neuen Namen aus Deiner Prager Zeit nannte er noch: Kreidlová, glaube ich. - So hätte er noch lange weitererzählt, aber ich verabschiedete mich, mir war ein wenig übel, vor mir vor allem, weil ich so stumm neben ihm ging und Dinge anhörte, die ich nicht hören wollte und die mich gar nicht kümmerten.


----------


Ich wiederhole: Wenn es irgendein Hindernis gibt, das irgendein kleines Leid für Dich zufolge haben könnte, bleib in Wien, wenn es nicht anders geht, auch ohne mich zu verständigen. - Wenn Du aber fährst, dann durchbrich gleich die Grenzsperre. Sollte es durch irgendeine mir jetzt ganz unabsehbare Verrücktheit geschehn, dass ich nicht fahren und Dich in Wien (ich würde dann an Frau Kohler telegraphieren) nicht mehr verständigen könnte, liegt in Gmünd im Bahnhofshotel ein Telegramm für Dich.


----------


Kamen alle 6 Bücher an?


----------


Ähnlich wie beim Anhören des Stein war mir beim Lesen der "Kavárna", nur erzählst Du so viel besser als er; wer erzählt noch so gut? Warum aber erzählst Du jedem der sich die Tribuna kauft? Während ich es las, war mir als gieng ich auf und ab vor dem Kaffeehaus, tag und nacht, jahrelang; immer wenn ein Gast kam oder weggieng, überzeugte ich mich durch die geöffnete Tür, dass Du noch immer drin warst und dann nahm ich wieder die Wanderung auf und wartete. Es war weder traurig noch anstrengend. Was für eine Trauer oder Anstrengung vor dem Kaffeehaus warten, in dem Du sitzt!




1] das Trikot: Vgl. Brief vom [7. August 1920], S. 193, aus dem hervorgeht, dass sie ein Trikot bei ihm bestellt hatte. Durch die prompte Erledigung dieses Auftrages empfand sie sich nun von ihm allzu "väterlich" umsorgt.


2] Kreuzen . . . Aflenz: Bad Kreuzen bei Grein an der Donau und Aflenz in der Obersteiermark.


3] zugrundegegangen durch Kokain: Tatsächlich nahm Milena gelegentlich Kokain, um ihre Kopfschmerzen leichter überstehen zu können.


4] Selbstmord: Josef Reiners Verzweiflungstat. Vgl. 2. Brief vom [12. Juni 1920], S. 58, und Anm. 1 zu diesem Brief.


5] Kreidlová: Amálie Kreidlová, eine ehemalige Mitschülerin im Mädchengymnasium "Minerva", Prag.


6] "Kavárna": [Das Kaffeehaus]. Milenas Artikel in der "Tribuna", II. Jg., Nr. 187 (10. 8. 1920), S. 1 f

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at