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An Milena Jesenská

[Prag, 9. August 1920] [Samstag]Montag nachmittag
 

(ich denke offenbar nur an     

Samstag)                              

Ich müßte ein Lügner sein, wenn ich nicht noch mehr sagte als heute im Morgenbrief, gar Dir gegenüber, vor der ich so frei sprechen kann, wie vor niemandem, weil noch niemand so auf meiner Seite gestanden ist wissend und wollend wie Du, trotz allem, trotz allem (Unterscheide das große Trotzallem vom großen Trotzdem).

Die schönsten Briefe unter den Deinigen (und das ist viel gesagt, denn sie sind ja im Ganzen, fast in jeder Zeile, das Schönste, was mir in meinem Leben geschehen ist) sind die, in denen Du meiner "Angst" recht gibst und gleichzeitig zu erklären suchst, dass ich sie nicht haben muß. Denn auch ich, mag ich auch manchmal aussehn wie ein bestochener Verteidiger meiner "Angst", gebe ihr im tiefsten wahrscheinlich Recht, ja ich bestehe aus ihr und sie ist vielleicht mein Bestes. Und da sie mein Bestes ist, ist sie auch vielleicht das allein, was Du liebst. Denn was wäre sonst großes Liebenswertes an mir zu finden. Dieses aber ist Liebenswert.

Und wenn Du einmal fragtest, wie ich den Samstag "gut" habe nennen können mit der Angst im Herzen, so ist das nicht schwer erklärt. Da ich Dich liebe und ich liebe Dich also, Du Begriffstützige, so wie das Meer einen winzigen Kieselstein auf seinem Grunde lieb hat, genau so überschwemmt Dich mein Liebhaben - und bei Dir sei ich wieder der Kieselstein, wenn es die Himmel zulassen) liebe ich die ganze Welt und dazu gehört auch Deine linke Schulter, nein es war zuerst die rechte und darum küsse ich sie, wenn es mir gefällt (und Du so lieb bist die Bluse dort wegzuziehn) und dazu gehört auch die linke Schulter und Dein Gesicht über mir im Wald und Dein Gesicht unter mir im Wald und das Ruhn an Deiner fast entblößten Brust. Und darum hast Du recht, wenn Du sagst dass wir schon eins waren und ich habe gar keine Angst davor, sondern es ist mein einziges Glück und mein einziger Stolz und ich schränke es gar nicht auf den Wald ein.

Aber eben zwischen dieser Tag-Welt und jener "halben Stunde im Bett" von der Du einmal verächtlich als von einer Männer-Sache schriebst, ist für mich ein Abgrund, über den ich nicht hinwegkommen kann, wahrscheinlich weil ich nicht will. Dort drüben ist eine Angelegenheit der Nacht, durchaus in jedem Sinn Angelegenheit der Nacht; hier ist die Welt und ich besitze sie und nun soll ich hinüberspringen in die Nacht, um sie noch einmal in Besitz zu nehmen. Kann man etwas noch einmal in Besitz nehmen? Heißt das nicht: es verlieren. Hier ist die Welt, die ich besitze und ich soll hinüber, einer unheimlichen Zauberei zuliebe, einem Hokuspokus, einem Stein der Weisen, einer Alchymie, einem Wunschring zuliebe. Weg damit, ich fürchte mich schrecklich davor.

In einer Nacht das durch Zauberei erwischen wollen, eilig, schweratmend, hilflos, besessen, das durch Zauberei erwischen wollen, was jeder Tag den offenen Augen gibt! ("Vielleicht" kann man Kinder nicht anders bekommen, "vielleicht" sind auch Kinder Zauberei. Lassen wir diese Frage noch). Darum bin ich ja so dankbar (Dir und allem) und so ist es also samoz-řejmá, dass ich neben Dir höchst ruhig und höchst unruhig, höchst gezwungen und höchst frei bin, weshalb ich auch nach dieser Einsicht alles andere Leben aufgegeben habe. Sieh mir in die Augen!


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Erst durch Frau Kohler erfahre ich also, dass die Bücher vom Nachttisch auf den Schreibtisch übersiedelt sind. Ich hätte vorher unbedingt gefragt werden müssen, ob ich mit dieser Übersiedlung einverstanden bin. Und ich hätte gesagt: Nein!


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Und nun danke mir. Ich habe die Lust hier in diesen letzten Zeilen noch etwas Wahnsinniges aufzuschreiben (etwas Wahnsinnig-Eifersüchtiges) glücklich unterdrückt.


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Aber jetzt ist es genug, jetzt erzähle von Emilie.




1] den Samstag "gut" habe nennen können: Kafka bezieht sich auf die gemeinsamen vier Tage in Wien. Vgl. Brief vom [4. Juli 1920] Sonntag, Anm. 1.
2] samoz-řejmá: Selbstverständlich.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at