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[Prag, 8. August 1920, Sonntag]
An Milena Jesenská

Sonntag
 

Das Telegramm. Ja, es ist wohl das Beste, wenn
wir zusammenkommen. Wie lange würde es sonst
dauern, ehe wir Ordnung machen. Woher ist
das alles eingebrochen zwischen uns? Man sieht
ja kaum einen Schritt weit. Und wie mußt Du
darunter gelitten haben inmitten alles Sonstigen.
Und ich hätte es ja längst einhalten können, der
Blick war klar genug, aber die Feigheit war stärker.
Und habe ich nicht auch gelogen, da ich Briefe
denen ich deutlich ansah, dass sie nicht mir
gehörten, beantwortete wie mir gehörige? Hoffent-
lich hat nicht eine der in diesem Sinne "gelo-
genen" Antworten Dir die Gmündener Reise
abgenötigt.
Mir ist durchaus nicht so traurig, wie man
nach diesem Brief glauben könnte, es läßt sich
eben nur im Augenblick nichts anderes sagen.
Es ist so still geworden, man wagt in die
Stille kein Wort zu sagen. Nun Sonntag werden
wir ja beisammen sein, 5, 6 Stunden, zum Reden
zu wenig, zum Schweigen, zum Bei-derHand-halten,
zum In-die-Augen-sehn genug.



Quelle Text: Drei Briefe an Milena Jesenská vom Sommer 1920. Frankfurt am Main: Stroemfeld, 1995.
Quelle Anmerkungen: Briefe an Milena. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1986. 9. - 18. Tausend

1] Briefe... "gelogenen" Antworten: Mehrere Personen erhielten Briefe in einer Handschrift, die der Milenas täuschend ähnlich sah

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at