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An Milena Jesenská
Was Du zum Samstag-abend-brief sagen wirst weiß ich noch nicht und
werde es noch lange nicht wissen, jedenfalls sitze ich jetzt da im Bureau,
es ist Sonntagsdienst (auch eine merkwürdige Einrichtung, man sitzt
da und genug, andere arbeiten im Sonntagsdienst also weniger als sonst,
ich genau so viel) trüb, bald wills regnen, bald stört mich Wolkenlicht
beim Schreiben, nun, es ist genau so wie es ist, traurig und schwer. Und
wenn Du schreibst, dass ich Lust zu leben habe, so habe ich sie heute
kaum; was soll sie mir machen, die heutige Nacht, der heutige Tag? Im Grunde
habe ich sie trotzdem (komm immer wieder von Zeit zu Zeit, gutes Wort),
an der Oberfläche aber wenig. Ich gefalle mir auch so wenig, ich sitze
hier vor der Direktoratstür, der Direktor ist nicht da, aber ich würde
nicht staunen, wenn er herauskäme und sagte: "Mir gefallen Sie
auch nicht, deshalb kündige ich Ihnen." "Danke"
würde ich sagen "ich brauche das dringend für eine Wiener
Reise." "So" würde er sagen "jetzt gefallen
Sie mir wieder und ich ziehe die Kündigung zurück." "Ach"
würde ich sagen "nun kann ich also wieder nicht fahren."
"O ja" würde er sagen "denn jetzt gefallen Sie mir
wieder nicht und ich kündige." Und so wäre das eine endlose
Geschichte.
Heute habe ich zum ersten Mal, glaube ich, seitdem ich in Prag bin, von
Dir geträumt. Ein Traum gegen morgen, kurz und schwer, noch etwas
vom Schlaf erwischt nach böser Nacht. Ich weiß wenig davon.
Du warst in Prag, wir giengen durch die Ferdinandstraße, etwa gegenüber
Vilimek, in der Richtung zum Quai, irgendwelche Bekannte von Dir giengen
auf der andern Seite vorüber, wir wendeten uns nach ihnen um, Du sprachst
von ihnen, vielleicht war auch von Krasa die Rede [er
ist nicht in Prag, das weiß ich, nach seiner Adresse werde ich mich
erkundigen]. Du sprachst wie sonst, aber etwas nicht zu fassendes, nicht
aufzuzeigendes von Abweisung war darin, ich erwähnte nichts davon,
aber verfluchte mich, sprach damit nur den Fluch aus, der auf mir lag.
Dann waren wir im Kaffeehaus, im Kaffee Union wahrscheinlich (es lag ja
auf dem Weg, auch war es das Kaffeehaus von Reiners letztem Abend), ein
Mann und ein Mädchen saßen an unserem Tisch, an die kann ich
mich aber gar nicht erinnern, dann ein Mann, der Dostojewski sehr ähnlich
sah, aber jung, tiefschwarz Bart und Haar, alles z. B. die Augenbrauen,
die Wülste über den Augen ungemein stark. Dann warst Du da und
ich. Wieder verriet nichts Deine abweisende Art, aber die Abweisung war
da. Dein Gesicht war - ich konnte von der quälenden Merkwürdigkeit
nicht wegschauen - gepudert, undzwar überdeutlich, ungeschickt, schlecht,
es war wahrscheinlich auch heiß und so hatten sich ganze Puderzeichnungen
auf Deinen Wangen gebildet, ich sehe sie noch vor mir. Immer wieder beugte
ich mich vor um zu fragen, warum Du gepudert bist; wenn Du merktest, dass
ich fragen wollte, fragtest Du entgegenkommend - die Abweisung war ja eben
nicht zu merken - "Was willst Du?" Aber ich konnte nicht fragen,
ich wagte es nicht und dabei ahnte ich irgendwie dass dieses Gepudertsein
eine Probe für mich war, eine ganz entscheidende Erprobung, dass
ich eben fragen sollte und ich wollte es auch, aber wagte es nicht. So
wälzte sich der traurige Traum über mich hin. Dabei quälte
mich auch der Dostojewski-Mann. Er war in seinem Benehmen mir gegenüber
ähnlich wie Du, aber doch ein wenig anders. Wenn ich ihn etwas fragte,
war er sehr freundlich, teilnehmend, herübergebeugt, offenherzig,
wußte ich aber nichts mehr zu fragen oder zu sagen - das geschah
jeden Augenblickzog er sich mit einem Ruck zurück, versank in ein
Buch, wußte nichts mehr von der Welt und besonders von mir nicht,
verschwand in seinem Bart und Haar. Ich weiß nicht, warum mir das
unerträglich war, immer wieder - ich konnte nichts anders - mußte
ich ihn mit einer Frage zu mir herüberziehn und immer wieder verlor
ich ihn durch meine Schuld.
Einen kleinen Trost habe ich, Du darfst mir ihn heute nicht verbieten,
die Tribuna liegt vor mir, ich habe sie nicht einmal gegen
das Verbot kaufen müssen, ich habe sie mir vom Schwager ausgeborgt,
nein, der Schwager hat sie mir geborgt. Bitte, laß mir dieses Glück.
Es kümmert mich ja zunächst nicht was darin steht, aber ich höre
die Stimme, meine Stimme! im Lärm der Welt, laß mir das Glück.
Und auch das Ganze ist so schön! Ich weiß nicht wie es geschieht,
ich lese es doch nur mit den Augen, wie hat es gleich auch mein Blut erfahren
und trägt es schon heiß in sich? Und lustig ist es. Ich gehöre
natürlich zu der zweiten Gruppe; dieses Gewicht an den Füßen
ist geradezu mein Eigentum und ich bin gar nicht damit einverstanden, dass
meine rein persönliche Angelegenheit veröffentlicht wird; jemand
hat einmal gesagt, dass ich wie ein Schwan schwimme, aber das war
kein Kompliment. Aber auch aufregend ist es. Ich komme mir vor wie ein
Riese, der mit ausgestreckten Armen das Publikum von Dir abhält -
er hat es schwer, er soll das Publikum abhalten und will doch auch kein
Wort und keine Sekunde Deines Anblicks verlieren - dieses wahrscheinlich
doch verbohrte, urdumme, überdies frauenhafte Publikum, das vielleicht
ruft: "Wo ist die Mode? Also wo ist endlich die Mode? Was wir bisher
gesehen haben, ist "nur" Milena. " Nur, und von diesem
Nur lebe ich. Und habe eigentlich den sonstigen Rest der Welt genommen
wie Münchhausen die Lafetten von Gibraltar und sie ins große
Meer geworfen. Wie? Den ganzen Rest? Und lügen? Lügen kannst
Du im Bureau nicht? Nun ja, ich sitze da, es ist genau so trüb wie
früher und morgen kommt kein Brief und der Traum ist die letzte Nachricht,
die ich von Dir habe.
1] Krasa: Hans Krasa (1899-1944), Komponist, gehörte
zum Kreis der Künstler im Prager Cafe "Continenta".
2] Tribuna: Kafka spricht hier von einem Artikel
Milenas über Badeanzüge ("Plavky") in der "Tribuna",
II. Jg., Nr. 180 (1. 8. 1920), S. 6, in dem Milena zwei Arten von Schwimmern
unterscheidet: diejenigen, deren Körper beim Schwimmen horizontal
im Wasser liegt, und diejenigen, deren Körper beim Schwimmen immer-ganz
unsportlich nach unten "hängt".
Sonntag
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at