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An Milena Jesenská
Wie man den heutigen Brief den lieben treuen fröhlichen glückbringenden
Brief auch drehen mag, es ist doch ein "Retter"-brief. Milena
unter den Rettern!
(wäre ich auch unter ihnen, wäre sie dann schon bei mir? nein,
dann gewiß nicht) Milena unter den Rettern, sie die doch am eigenen
Leib es immerfort erfährt, dass man den andern nur durch sein
Dasein retten kann und sonst durch nichts. Und nun hat sie mich schon durch
ihr Dasein gerettet und versucht es nun nachträglich noch mit andern,
so unendlich kleineren Mitteln. Wenn einer den andern vom Ertrinken rettet,
so ist das natürlich eine sehr große Tat, wenn er aber nachher
dem Geretteten noch ein Abonnement auf Schwimmlektionen schenkt, was soll
das? Warum will es sich der Retter so leicht machen, warum will er den
andern nicht immerfort auch weiterhin durch sein Dasein, sein stets bereites
Da-sein retten, warum will er die Aufgabe abwälzen auf Schwimmeister
und Davoser Hotelbesitzer? Und außerdem wiege ich ja doch 55.40!
Und wie kann ich wegfliegen, wenn wir uns bei der Hand halten? Und wenn
wir beide wegfliegen, was tut es dann? Und außerdem - das ist der
eigentliche Grundgedanke des vorigen - fahre ich niemals mehr so weit von
Dir weg. Ich komme doch erst aus den Meraner Bleikammern.
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Samstag abend
Das war geschrieben, ich wollte heute auch noch anderes schreiben, aber
es ist jetzt nebensächlich. Ich kam nachhause sah im Dunkel auf dem
Schreibtisch den unerwarteten Brief, überflog ihn, wurde immerfort
zum Nachtmahl gerufen, aß irgendetwas, das leider nicht anders vom
Teller verschwinden wollte als dadurch dass man es hinunterschluckte,
las dann den Brief gründlich, langsam, schnell, wild, glücklich,
einmal staunend - man glaubt es gar nicht, aber es steht doch da und man
glaubt es doch nicht, aber man sinkt darüber hin und das ist doch
ein Glauben schließlich verzweifelt, verzweifelt, herzklopfend verzweifelt.
"Ich kann nicht kommen" das wußte ich bei der ersten
Zeile und wußte es bei der letzten, dazwischen war ich allerdings
mehrmals in Wien so wie man in einer schlaflosen überwachen Nacht
zehnmal etwa halbminutenlange Träume hat. Dann gierig ich zur Post,
telegraphierte Dir, wurde ein wenig ruhiger und sitze jetzt da. Sitze jetzt
da mit der kläglichen Aufgabe Dir zu beweisen dass ich nicht
kommen kann. Nun, Du sagst ich sei nicht schwach, vielleicht also gelingt
es mir, vor allem aber vielleicht gelingt es mir die nächsten Wochen
durchzubringen, aus denen mich schon jetzt jede Stunde angrinst mit der
Frage: "Du warst also wirklich nicht in Wien? Bekamst diesen Brief
und warst nicht in Wien? Warst nicht in Wien? Warst nicht in Wien?"
Ich verstehe nicht Musik aber diese Musik verstehe ich leider besser als
alle Musikalischen.
Ich konnte nicht kommen, weil ich im Amt nicht lügen kann. Ich kann
auch im Amt lügen aber nur aus 2 Gründen, aus Angst (das ist
also eine Bureauangelegenheit, gehört dorthin, da lüge ich unvorbereitet,
auswendig, inspiriert) oder aus letzter Not (also wenn "Else
krank" wird, Else, Else, nicht Du Milena, Du wirst nicht krank,
das wäre schon allerletzte Not, von der rede ich überhaupt nicht),
also aus Not könnte ich sofort lügen, dann wäre kein Telegramm
nötig, Not ist etwas, was gegenüber dem Bureau bestehen kann,
dann fahre ich entweder mit oder ohne Erlaubnis. Aber in allen Fällen,
wo unter den Gründen, die ich für das Lügen hätte,
das Glück, die Not des Glücks der Hauptgrund ist, kann ich nicht
lügen, kann es nicht, so wie ich nicht zokg-Hanteln stemmen kann.
Käme ich mit dem Else-Telegramm zum Direktor, es würde mir gewiß
aus der Hand fallen und fiele es, ich würde gewiß darauf, auf
die Lüge, treten und hätte ich das getan, würde ich gewiß
vom Direktor weglaufen ohne um etwas zu bitten. Bedenke doch, Milena, das
Bureau ist doch nicht irgendeine beliebige dumme Einrichtung (die ist es
auch und überreichlich, aber davon ist hier nicht die Rede, übrigens
ist es mehr phantastisch als dumm) sondern es ist mein bisheriges Leben,
ich kann mich davon losreißen, gewiß, und das wäre vielleicht
gar nicht schlecht, aber bis jetzt ist es eben mein Leben, ich kann damit
lumpig umgehn, weniger arbeiten als irgendjemand (tue ich) die Arbeit verhudeln
(tue ich) mich trotzdem wichtig machen (tue ich) die liebenswürdigste
Behandlung, die im Bureau denkbar ist, als mir gebärend ruhig hinnehmen,
aber lügen, um plötzlich als freier Mensch, der ich doch nur
angestellter Beamter bin, dorthin zu fahren, wohin mich "nichts anderes"
treibt als der selbstverständliche Schlag des Herzens, nun ich kann
also nicht so lügen. Das aber wollte ich Dir noch ehe ich Deinen Brief
bekommen hatte schreiben, dass ich gleich diese Woche meinen Paß
erneuern oder sonst in Ordnung bringen lasse, um möglichst gleich
zu kommen, wenn es sein muß.
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Ich überlese das und habe es doch gar nicht so gemeint und bin doch
nicht "stark" da ich es nicht richtig sagen konnte [das noch:
ich kann dort vielleicht schlechter lügen als ein anderer, dem (so
sind die meisten Beamten) seiner Meinung nach immerfort Unrecht geschieht,
der über seine Kräfte arbeitet - hätte ich doch diese Meinung,
das wäre schon fast ein Wiener Schnellzug - der das Bureau als eine
dumm geleitete Maschine ansieht -er würde das viel besser machen eine
Maschine in der er ebeninfolge dieser Dummheit der Leitung an unpassender
Stelle verwendet wird seinen Fähigkeiten nach ist er ein Ober-Ober-Rad
und muß hier nur als Unter-UnterRad arbeiten u. s. £ , mir aber ist
das Bureau - und so war es die Volksschule, Gymnasium, Universität,
Familie, alles, ein lebendiger Mensch, der mich, wo ich auch bin, mit seinen
unschuldsvollen Augen ansieht, ein Mensch, mit dem ich auf irgendeine mir
unbekannte Weise verbunden worden bin, trotzdem er mir fremder ist, als
die Leute, die ich jetzt im Automobil über den Ring fahren höre.
Also fremd ist er mir bis zur Sinnlosigkeit, aber gerade das erfordert
Rücksichten, ich verberge ja meine Fremdheit kaum, aber wann erkennt
das eine solche Unschuld - und ich kann also nicht lügen] nein stark
bin ich nicht und schreiben kann ich nicht und nichts kann ich. Und nun
Milena wendest Du Dich auch noch von mir ab, nicht für lange, ich
weiß, aber sieh, lange hält es der Mensch nicht aus, ohne dass
das Herz schlägt und solange Du abgewendet bist, wie kann es denn
schlagen?
Wenn Du mir nach diesem Brief telegraphieren könntest! Das ist ein
Ausruf, keine Bitte. Nur wenn Du es frei tun kannst, tue es. Nur dann,
Du siehst, ich unterstreiche nicht einmal diese Zeilen.
Noch ein drittes, das mir das Lügen ermöglichen würde habe
ich vergessen: wenn Du neben mir wärest. Aber dann wäre es die
unschuldigste Lüge der Welt, denn dann stünde doch im Direktionszimmer
niemand außer Dir.
1] "Else krank": Bezieht sich auf den
verabredeten Telegrammtext mit fiktiven Namen, mit dem sich Kafka die Erlaubnis
zu einer Reise verschaffen sollte. Vgl. Brief vom [2. bis 3. August 1920],
Dienstag, Anm. 1.
Samstag, später
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at