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An Milena Jesenská

[Prag, 31. Juli 1920]
Samstag
 

Augenblicklich bin ich zerstreut und traurig, ich habe Dein Telegramm verloren d. h. es kann nicht verloren sein, aber schon dass ich es suchen muß, ist arg genug. Obrigens bist nur Du schuld daran; wäre es nicht so schön gewesen, hätte ich es nicht immerfort in Händen gehabt.

Nur was Du vom Arzt sagst tröstet mich. Also das Blut hat nichts zu bedeuten gehabt, nun ich sagte es ja als Vermutung auch, ich alter Mediciner. Nun, was sagt er von dem Lungendefekt? Hungern und Koffertragen hat er gewiß nicht verschrieben. Und dass Du mir weiter gut sein sollst, hat er zugestimmt? Oder wurde von mir gar nicht gesprochen? Ja aber wie kann ich mich zufrieden geben, wenn der Arzt keine Spur von mir gefunden hat? Oder sollte es mein Defekt sein, den er in Deiner Lunge gefunden hat?

Und es ist wirklich nicht schlimm? Und er hat nichts zu sagen, als Dich für 4 Wochen auf das Land zu schikken? Das ist doch eigentlich sehr wenig.

Nein, ich habe gegen die Reise nicht viel mehr als gegen das Wiener Leben. Fahre nur weg, bitte, fahre. Irgendwo schriebst Du von der Hoffnung, die Du auf die Fahrt setzt; das ist auch Grund genug für mich sie zu wünschen.

Die Reise nach Wien, nochmals. Wenn Du ernst davon schreibst, ist es am schlimmsten, dann fängt der Boden hier wirklich zu schaukeln an und ich lauere darauf, ob er mich auswirft. Er tut es nicht. Von dem äußern Hindernis - von den innern will ich nicht reden, denn trotzdem sie stärker sind, sie würden mich, glaube ich, nicht halten, nicht weil ich stark bin, sondern weil ich zu schwach bin, mich von ihnen halten zu lassen - habe ich schon geschrieben, ich könnte die Reise nur durch eine Lüge ermöglichen und vor der Lüge fürchte ich mich, nicht wie ein Ehrenmann, sondern wie ein Schüler. Und außerdem habe ich das Gefühl oder ahne wenigstens die Möglichkeit, dass ich einmal meinet- oder Deinetwegen unbedingt, unvermeidbar nach Wien werde fahren müssen, zum zweitenmal aber könnte ich auch als leichtsinniger Schüler nicht lügen. Diese Möglichkeit der Lüge ist also meine Reserve, von ihr lebe ich, wie von Deinem Versprechen des sofortigen Kommens. Deshalb werde ich jetzt nicht kommen; statt der Gewißheit dieser 2 Tage - bitte beschreib sie nicht Milena damit folterst Du mich ja fast, die Not ist es noch nicht, aber eine Bedürftigkeit ohne Grenzen-habe ich ihre fortwährende Möglichkeit.

Und die Blumen? Sie sind natürlich schon verwelkt? Sind Dir schon einmal Blumen in die "unrechte Kehle" gekommen, wie mir diese? Das ist nämlich sehr unangenehm.

In den Kampf zwischen Dir und Max menge ich mich nicht ein. Ich bleibe zur Seite, gebe jedem sein Recht und bin in Sicherheit. Du hast unzweifelhaft Recht in dem was Du sagst, aber nun wechseln wir den Platz. Du hast Deine Heimat und kannst auf sie auch verzichten und es ist vielleicht auch das Beste was man mit der Heimat tun kann, besonders da man auf das was an ihr unverzichtbar ist, eben nicht verzichtet. Er aber hat keine Heimat und kann deshalb auch auf nichts verzichten und muß immerfort daran denken, sie zu suchen oder zu bauen, immerfort ob er den Hut vom Nagel nimmt oder auf der Schwimmschule in der Sonne liegt oder das von Dir zu übersetzende Buch schreibt (hier ist er vielleicht noch am wenigsten gespannt - aber Du Arme, Liebe, wieviel Arbeit bürdest Du Dir auf aus Schuldbewußtsein, ich sehe Dich über die Arbeit gebeugt, der Hals ist frei, ich stehe hinter Dir, Du weißt es nicht - bitte erschrick nicht, wenn Du meine Lippen am Nacken fühlst, ich wollte nicht küssen, es ist nur hilflose Liebe) - ja Max, also, immerfort muß er daran denken auch wenn er Dir schreibt.

Und merkwürdig wie Du trotzdem Dich im Ganzen richtig gegen ihn wehrst, im Einzelnen ihm unterliegst. Er hat offenbar vom Wohnen bei den Eltern und von Davos geschrieben. Beides unrichtig. Gewiß das Wohnen bei den Eltern ist sehr schlecht, aber nicht nur das Wohnen, das Leben das Hinsinken in diesem Kreis der Güte, der Liebe, ja Du kennst den Vaterbrief nicht, das Rütteln der Fliege an der Leimrute, übrigens hat auch das gewiß sein Gutes, einer kämpft eben bei Marathon, der andere im Speisezimmer, der Kriegsgott und die Siegesgöttin sind überall. Aber das mechanische Wegübersiedeln, was sollte das für einen Zweck haben, gar wenn ich zuhause essen würde, wo es doch augenblicklich gewiß für mich am besten ist. Über Davos nächstens. Das einzige was ich von Davos gelten lasse, ist der Kuß bei der Abreise.


am linken Rand der ersten Briefseite (Beschriftung bis Leben. Fahre): Lese ich recht? Ist ein großes T auf dem Couvert? Der Stempel ist gerade darüber und so weiß ich es nicht genau.


am linken Rand der letzten Briefseite (Beschriftung ab Buch schreibt): Ja bitte schick mir das Unglücklichsein, ich wollte Dich schon darum bitten. In der Tribuna es suchen lassen, ist unangenehm.




1] Vaterbrief: Vgl. Brief vom [21. Juni 1920], Anm. 1.


2] Unglücklichsein: Kafkas Prosastück "Unglücklichsein" war am 16. Juli 1920 unter dem Titel "Nešt'astný" in der "Tribuna" erschienen. Vgl. Brief vom [21. Juli 1920] Mittwoch, Anm. 1.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at