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An Milena Jesenská

[Prag, 30. Juli 1920]
Freitag
 

Du willst immer wissen Milena, ob ich Dich lieb habe, aber das ist doch eine schwere Frage, die kann man nicht im Brief (nicht einmal im letzten Sonntagsbriebrief beantworten. Wenn wir einmal nächstens einander sehen werden, werde ich es Dir gewiß sagen (wenn mir nicht die Stimme versagt).

Aber von der Reise nach Wien solltest Du nicht schreiben; ich werde nicht kommen, aber jede Erwähnung dessen ist ein Feuerchen, das Du mir an die bloße Haut hältst, es ist schon ein kleiner Scheiterhaufen und er brennt nicht nieder, sondern immer mit gleicher, ja mit steigender Kraft. Das kannst Du doch nicht wollen.

Die Blumen, die Du bekommen hast, tun mir sehr leid. Vor Leid kann ich nicht einmal entziffern, was es für Blumen waren. Und die stehn nun in Deinem Zimmer. Wenn ich wirklich der Schrank wäre, würde ich mich bei hellem Tag plötzlich aus dem Zimmer schieben. Wenigstens solange bis die Blumen verwelkt sind würde ich im Vorzimmer bleiben. Nein, das ist nicht schön. Und so weit ist alles und doch habe ich die Klinke Deiner Tür so nah vor den Augen wie mein Tintenfaß.

Nun ja gewiß, ich habe Dein gestriges, nein vorgestriges Telegramm, aber auch damals waren die Blumen noch nicht verwelkt. Und warum freust Du Dich über sie? Sind es Deine "liebsten", dann mußt Du Dich doch über alle freuen, soviele es von ihrer Art auf der Erde gibt, warum gerade über diese? Aber vielleicht ist auch das eine zu schwere Frage und nur mündlich zu beantworten. Ja, aber wo bist Du denn? Bist Du in Wien? Und wo ist das?

Nein, die Blumen werde ich nicht Ios. Die Kärtnerstraße, nun das ist eine Gespenstergeschichte oder ein Traum, geträumt an einem nächtlichen Tag, [. . . ][6 Wörter unleserlich gemacht] aber die Blumen sind wirklich, füllen die Vase (nátuč [[ein] Armvoll] sagst Du und hältst sie an Deinen Leib) und man darf nicht einmal zwischen sie fahren, weil es doch Deine "liebsten Blumen" sind. Wartet, wenn Milena einmal aus dem Zimmer geht, reiße ich euch heraus und werfe euch in den Hof hinunter.

Warum bist Du trüb? Ist etwas geschehn? Und Du sagst es mir nicht? Nein, das ist doch nicht möglich.

Du fragst nach Max, aber er hat Dir doch längst geantwortet, ich weiß zwar nicht was, aber Sonntag hat er vor mir den Brief eingeworfen. Hast Du eigentlich meinen Sonntagsbrief bekommen?

Gestern war ein äußerst unruhiger Tag, nicht quälend unruhig, nur unruhig, vielleicht erzähle ich nächstens davon. Vor allem hatte ich Dein Telegramm in der Tasche und das war ein besonderes Gehn damit. Es gibt eine besondere menschliche Güte, von der die Menschen nicht wissen. Z. B. man geht der Čechbrücke zu, zieht das Telegramm heraus und liest es (es ist immer neu; wenn man es aufsaugend überlesen hat, ist das Papier leer, aber kaum hat man es in die Tasche gesteckt, wird es dort wieder eiligst neu beschrieben). Dann sieht man sich um und sollte doch denken, man werde böse Mienen sehn, nicht gerade Neid, aber doch Blicke, in denen steht: "Wie? Gerade Du hast dieses Telegramm bekommen? Das werden wir nun aber gleich oben anzeigen. Zumindest werden sofort Blumen (ein Arm voll) nach Wien geschickt. Jedenfalls sind wir entschlossen das Telegramm nicht einfach hinzunehmen." Aber statt dessen, alles ruhig, soweit Du sehen kannst, die Angler angeln weiter, die Zuschauer sehen weiter zu, die Kinder spielen Fußball, der Mann bei der Brücke sammelt die Kreuzer ein. Wenn man genauer zusieht, ist ja eine gewisse Nervosität dabei, die Leute zwingen sich bei ihren Arbeiten zu bleiben, nichts von ihren Gedanken zu verraten. Aber gerade dass sie sich zwingen, ist doch so liebenswert, diese Stimme, die aus dem Ganzen spricht: "Es ist richtig, das Telegramm gehört Dir, wir sind damit einverstanden, wir untersuchen nicht Deine Berechtigung es zu bekommen, wir sehen darüber hinweg und Du kannst es Dir lassen. " Und wenn ich es nach einem kleinen Weilchen wieder herausziehe, könnte man denken, es werde sie reizen, weil ich nicht wenigstens still bin und mich nicht verstecke, nein, es reizt sie nicht, sie bleiben wie sie waren.


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Abend sprach ich wieder einmal mit einem palästinensischen Juden, es ist unmöglich Dir ihn im Brief begreiflich zu machen, ich glaube, seine Wichtigkeit für mich, ein kleiner, fast winziger, schwacher, bärtiger, einäugiger Mann. Aber er hat mich die halbe Nacht gekostet in der Erinnerung. Nächstens noch darüber.


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Du hast also keinen Paß und wirst keinen bekommen?


am rechten Rand der ersten Briefseite (Beschriftung bis Tintenfaß): [Nein der Mann ist ein Sonderling, ihn interessieren nur österreichische Marken, vielleicht verwendest Du, wenn Du jene Kronenmarke nicht bekommen hast, kleinere Werte, etwa 25 h Marken und dgl.] Aber nein laß es überhaupt bitte, bitte laß es. [Nein . . . dgl. mit Blaustift durchgestrichen] [Aber . . . laß es. durch Unterstreichungen mit Blau- und Rotstift hervorgehoben]


am linken Rand der zweiten Briefseite (Beschriftung von Nun ja gewiß bis das ist doch): Und warum bist Du traurig?


am linken Rand der letzten Briefseite (Beschriftung ab hinzunehmen"): Und warum bist Du traurig?

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at