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An Milena Jesenská
Du willst immer wissen Milena, ob ich Dich lieb habe, aber das ist doch
eine schwere Frage, die kann man nicht im Brief (nicht einmal im letzten
Sonntagsbriebrief beantworten. Wenn wir einmal nächstens einander
sehen werden, werde ich es Dir gewiß sagen (wenn mir nicht die Stimme
versagt).
Aber von der Reise nach Wien solltest Du nicht schreiben; ich werde nicht
kommen, aber jede Erwähnung dessen ist ein Feuerchen, das Du mir an
die bloße Haut hältst, es ist schon ein kleiner Scheiterhaufen
und er brennt nicht nieder, sondern immer mit gleicher, ja mit steigender
Kraft. Das kannst Du doch nicht wollen.
Die Blumen, die Du bekommen hast, tun mir sehr leid. Vor Leid kann ich
nicht einmal entziffern, was es für Blumen waren. Und die stehn nun
in Deinem Zimmer. Wenn ich wirklich der Schrank wäre, würde ich
mich bei hellem Tag plötzlich aus dem Zimmer schieben. Wenigstens
solange bis die Blumen verwelkt sind würde ich im Vorzimmer bleiben.
Nein, das ist nicht schön. Und so weit ist alles und doch habe ich
die Klinke Deiner Tür so nah vor den Augen wie mein Tintenfaß.
Nun ja gewiß, ich habe Dein gestriges, nein vorgestriges Telegramm,
aber auch damals waren die Blumen noch nicht verwelkt. Und warum freust
Du Dich über sie? Sind es Deine "liebsten", dann mußt
Du Dich doch über alle freuen, soviele es von ihrer Art auf der Erde
gibt, warum gerade über diese? Aber vielleicht ist auch das eine zu
schwere Frage und nur mündlich zu beantworten. Ja, aber wo bist Du
denn? Bist Du in Wien? Und wo ist das?
Nein, die Blumen werde ich nicht Ios. Die Kärtnerstraße, nun
das ist eine Gespenstergeschichte oder ein Traum, geträumt an einem
nächtlichen Tag, [. . . ][6 Wörter unleserlich gemacht]
aber die Blumen sind wirklich, füllen die Vase (nátuč
[[ein] Armvoll] sagst Du und hältst sie an Deinen Leib) und man darf
nicht einmal zwischen sie fahren, weil es doch Deine "liebsten Blumen"
sind. Wartet, wenn Milena einmal aus dem Zimmer geht, reiße ich euch
heraus und werfe euch in den Hof hinunter.
Warum bist Du trüb? Ist etwas geschehn? Und Du sagst es mir
nicht? Nein, das ist doch nicht möglich.
Du fragst nach Max, aber er hat Dir doch längst geantwortet, ich weiß
zwar nicht was, aber Sonntag hat er vor mir den Brief eingeworfen. Hast
Du eigentlich meinen Sonntagsbrief bekommen?
Gestern war ein äußerst unruhiger Tag, nicht quälend unruhig,
nur unruhig, vielleicht erzähle ich nächstens davon. Vor allem
hatte ich Dein Telegramm in der Tasche und das war ein besonderes Gehn
damit. Es gibt eine besondere menschliche Güte, von der die Menschen
nicht wissen. Z. B. man geht der Čechbrücke zu, zieht das Telegramm
heraus und liest es (es ist immer neu; wenn man es aufsaugend überlesen
hat, ist das Papier leer, aber kaum hat man es in die Tasche gesteckt,
wird es dort wieder eiligst neu beschrieben). Dann sieht man sich um und
sollte doch denken, man werde böse Mienen sehn, nicht gerade Neid,
aber doch Blicke, in denen steht: "Wie? Gerade Du hast dieses Telegramm
bekommen? Das werden wir nun aber gleich oben anzeigen. Zumindest werden
sofort Blumen (ein Arm voll) nach Wien geschickt. Jedenfalls sind wir entschlossen
das Telegramm nicht einfach hinzunehmen." Aber statt dessen, alles
ruhig, soweit Du sehen kannst, die Angler angeln weiter, die Zuschauer
sehen weiter zu, die Kinder spielen Fußball, der Mann bei der Brücke
sammelt die Kreuzer ein. Wenn man genauer zusieht, ist ja eine gewisse
Nervosität dabei, die Leute zwingen sich bei ihren Arbeiten zu bleiben,
nichts von ihren Gedanken zu verraten. Aber gerade dass sie sich zwingen,
ist doch so liebenswert, diese Stimme, die aus dem Ganzen spricht: "Es
ist richtig, das Telegramm gehört Dir, wir sind damit einverstanden,
wir untersuchen nicht Deine Berechtigung es zu bekommen, wir sehen darüber
hinweg und Du kannst es Dir lassen. " Und wenn ich es nach einem
kleinen Weilchen wieder herausziehe, könnte man denken, es werde sie
reizen, weil ich nicht wenigstens still bin und mich nicht verstecke, nein,
es reizt sie nicht, sie bleiben wie sie waren.
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Abend sprach ich wieder einmal mit einem palästinensischen Juden,
es ist unmöglich Dir ihn im Brief begreiflich zu machen, ich glaube,
seine Wichtigkeit für mich, ein kleiner, fast winziger, schwacher,
bärtiger, einäugiger Mann. Aber er hat mich die halbe Nacht gekostet
in der Erinnerung. Nächstens noch darüber.
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Du hast also keinen Paß und wirst keinen bekommen?
am rechten Rand der ersten Briefseite (Beschriftung bis Tintenfaß):
[Nein der Mann ist ein Sonderling, ihn interessieren nur österreichische
Marken, vielleicht verwendest Du, wenn Du jene Kronenmarke nicht bekommen
hast, kleinere Werte, etwa 25 h Marken und dgl.] Aber nein laß
es überhaupt bitte, bitte laß es. [Nein . . . dgl. mit
Blaustift durchgestrichen] [Aber . . . laß es. durch Unterstreichungen
mit Blau- und Rotstift hervorgehoben]
am linken Rand der zweiten Briefseite (Beschriftung von Nun ja gewiß
bis das ist doch): Und warum bist Du traurig?
am linken Rand der letzten Briefseite (Beschriftung ab hinzunehmen"):
Und warum bist Du traurig?
Freitag
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at