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An Milena Jesenská

[Prag, 29. Juli 1920]
Donnerstag, später
 

Damit also gar kein Zweifel ist, Milena:

Vielleicht ist es jetzt nicht der bestmöglichste Zustand, vielleicht könnte ich noch mehr Glück, noch mehr Sicherheit, noch mehr Fülle ertragen - trotzdem das durchaus nicht sicher ist, gar in Prag - jedenfalls ist mir, nehme ich den Durchschnitt, gut und froh und frei, ganz unverdient, zum Furcht-bekommen gut und wenn die gegenwärtigen Vorbedingungen ohne allzugroße Umstürze ein Weilchen aushalten und ich jeden Tag ein Wort von Dir bekomme und Dich darin nicht zu sehr gequält sehe, so reicht wahrscheinlich das allein aus, mich halbwegs gesund zu machen. Und nun bitte Milena quäle Dich nicht mehr und Physik habe ich nie verstanden (höchstens das von der Feuersäule, das ist doch Physik, nicht?) und die vaha světa [Waage der Welt] verstehe ich auch nicht und sie versteht mich gewiß ebenso wenig (was finge auch eine so ungeheure Waage mit meinen 55 kg Nacktgewicht an, sie merkt es gar nicht und setzt sich deshalb gewiß nicht in Bewegung) und ich bin hier so wie ich in Wien war und Deine Hand ist in meiner so lange Du sie dort läßt.



Das Gedicht von Werfel ist wie ein Porträt das jeden ansieht, auch mich sieht es an, und vor allem den Bösen, der es auch gar noch geschrieben hat.


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Deine Bemerkung über den Urlaub verstehe ich nicht ganz. Wohin würdest Du fahren?

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at