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An Milena Jesenská

[Prag, 29. Juli 1920]
Donnerstag
 

Das ist ein sehr schöner Zettel, der von Staša. Aber man kann nicht sagen, dass sie in diesem Zettel damals anders war als jetzt, sie ist in dem Zettel überhaupt nicht, sie spricht für Dich, es ist eine unglaubliche Vereinigung zwischen ihr und Dir, fast etwas Geistliches, so wie einer, fast selbst ungerührt, denn er wagt nicht mehr zu sein als Vermittler, weitererzählt, was er gehört hat; was allerdings - dieses Bewußtsein wirkt mit und macht den Stolz und die Schönheit des Ganzen aus - nur er hat hören und verstehen dürfen. Sie ist aber nicht anders als damals, glaube ich; einen solchen Zettel könnte sie vielleicht auch heute schreiben, wenn die Umstände ähnlich wären.

Mit den Geschichten ist es merkwürdig. Nicht deshalb bedrücken sie mich etwa, weil sie jüdisch sind und weil, wenn einmal diese Schüssel auf den Tisch gestellt ist, jeder Jude sich seinen Teil zu nehmen hat aus der gemeinsamen abscheulichen, giftigen, aber auch alten und im Grunde ewigen Speise, deshalb also bedrücken sie mich nicht. Möchtest Du mir nicht jetzt über sie hinweg die Hand reichen und lange, lange mir lassen?

Gestern habe ich das Grab gefunden. Wenn man es schüchtern sucht, ist es ja wirklich unmöglich zu finden, ich wußte doch nicht dass es das Grab Deiner mütterlichen Verwandten ist, auch kann man die Inschriften - das Gold ist fast ganz abgesprungen - nur lesen, wenn man sich aufmerksam hinunterbeugt. Ich war lange dort, das Grab ist schön, so unverwüstlich steinern, allerdings ganz ohne Blumen, aber was sollen die vielen Blumen auf den Gräbern, ich habe es nie recht verstanden. Paar bunte Nelken habe ich ganz an den Rand des Randes gelegt. Mir war auf dem Friedhof besser als in der Stadt, es hielt auch an, ich gierig lange durch die Stadt wie durch einen Friedhof.

Jeníček, das war Dein kleiner Bruder?


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Und bist Du gesund? Auf dem Bild aus Neu Waldegg bist Du eigentlich deutlich krank, es ist ja dort gewiß übertrieben, aber immerhin nur übertrieben. Ein wirkliches Bild habe ich von Dir noch nicht. Auf dem einen ist einjunges vornehmes zartes gepflegtes Mädchen, das man schon bald, etwa in 1, 2 Jahren aus dem Klosterpensionat herausnehmen wird (die Mundwinkel sind allerdings etwas hinabgezogen, aber das ist nur Vornehmheit und kirchliche Frömmigkeit) und das zweite Bild ist ein übertriebenes Propaganda-Bild: "so lebt man jetzt in Wien". Übrigens bist Du auf diesem zweiten Bild meinem geheimnisvollen ersten Freund wieder ungemein ähnlich; ich werde Dir einmal von ihm erzählen.


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Nein, nach Wien komme ich nicht, äußerlich wäre es nur durch eine Lüge zu ermöglichen, indem ich mich im Bureau krank melden lasse oder an zwei aufeinanderfolgenden Feiertagen. Das sind aber erst die äußerlichen Hindernisse, mein armer Junge (Selbstgespräch).

Staša war so viel bei Dir in Weleslavin?

Geschrieben habe ich täglich, Du wirst die Briefe wohl noch bekommen.

Das Telegramm, danke, danke, ich nehme alle Vorwürfe zurück, es waren ja auch nicht Vorwürfe, es war ein Streicheln mit dem Handrücken, weil der schon so lange neidisch ist. Eben war wieder der Dichter Graphiker (hauptsächlich aber ist er Musiker) bei mir, er kommt immerfort, heute brachte er mir a Holzschnitte (Trotzki und eine Verkündigung, Du siehst, seine Welt ist nicht klein); ihm zuliebe, um mir die Sachen näher zu bringen, stellte ich rasch eine Beziehung zu Dir her, sagte, dass ich es einem Freund in Wien schicke, was allerdings zur unbeabsichtigten Folge hatte, dass ich statt eines zwei Exemplare bekam (ich hebe Dir Deine hier auf oder willst Du sie gleich?). Nun aber, dann kam das Telegramm; während ich es las und las und nicht zuende kam mit Freude und Dankbarkeit, erzählte er unbeirrt weiter (dabei will er nicht etwa stören, nein, gar nicht; sage ich dass ich etwas zu tun habe und sage ich es laut, so dass es ihn weckt, bricht er den Satz in der Mitte ab und lauft weg, ganz unbeleidigt). Die ganze Nachricht ist ja sehr wichtig, aber die Einzelnheiten werden noch wichtiger sein. Vor allem aber: wie sollst Du Dich schonen, das ist ja unmöglich, wenigstens mir kann ein Arzt nichts Sinnloseres sagen. Ach, es ist doch schlimm, jedenfalls aber Dank, Dank.




1] das Grab gefunden: Kafka hatte das Grab von Milenas früh verstorbenem Bruder Jeníček unter dem Namen "Jesenskîý" gesucht, nicht unter dem Namen "Hejzlarová", dem Mädchennamen von Milenas gleichfalls früh verstorbener Mutter; in deren Familiengrab war der Bruder beigesetzt.


2] Dichter Graphiker: Gustav Janouch. Vgl. Brief vom [21. Juli 1920], Anm. 4.


Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at