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An Milena Jesenská

[Prag, 26. Juli 1920]
Montag, später
 

Ach soviele Akten sind gerade jetzt gekommen. Und wofür arbeite ich und gar mit dem unausgeschlafenen Kopf? Wofür? Für den Küchenofen.


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Und jetzt noch der Dichter, der erste, er ist auch Holzschneider, Radierer, und geht nicht weg und ist so voll Leben, dass er alles auf mich hinauswirft und sieht wie ich vor Ungeduld zittere, die Hand über diesem Brief zittert, der Kopf liegt mir schon auf der Brust und er geht nicht fort, der gute, lebendige, glücklich-unglückliche, außerordentliche aber mir gerade jetzt entsetzlich lästige Junge. Und Dir kommt Blut aus dem Mund.


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Und eigentlich schreiben wir immerfort das Gleiche. Einmal frage ich ob Du krank bist und dann schreibst Du davon, einmal will ich sterben und dann Du, einmal will ich Marken und dann Du, einmal will ich vor Dir weinen wie ein kleiner Junge und dann Du vor mir wie ein kleines Mädchen. Und einmal und zehnmal und tausendmal und immerfort will ich bei Dir sein und Du sagst es auch. Genug, Genug.


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Und noch immer ist kein Brief da darüber, was der Arzt gesagt hat, Du Langsame, Du schlechte Briefschreiberin, Du Böse, Du Liebe, Du - nun, was denn? nichts, still sein in Deinem Schooß.




1] der Dichter... Holzschneider, Radierer: Gustav Janouch, vgl. Brief vom [21. Juli 1920], Anm. 4.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at