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An Milena Jesenská
Ja, dieser Brief. Es ist so wie wenn man in die Hölle hinunterschauen
würde und der unten ruft zu einem herauf und erklärt einem sein
Leben und wie er es sich dort eingerichtet hat. Zuerst bratet er in diesem
Kessel und dann in jenem und dann setzt er sich in die Ecke um ein wenig
auszudampfen. Aber ich kenne sie ja nicht von früher (nur den pitomec
M kenne ich seit langem, auch Laurin nennt ihn so, ich habe es nicht
bemerkt) vielleicht ist sie wirklich verwirrt oder irrsinnig. Wie sollte
ein solches Schicksal sie nicht verwirrt haben da es ja auch uns verwirrt
und ich glaube ich wäre sehr aufgeregt wenn ich ihr gegenüberstünde,
denn sie ist ja nicht mehr nur ein Mensch sondern noch etwas anderes. Und
ich kann mir nicht denken, dass sie das nicht auch merkt und Deinen
Ekel vor ihrem Brief nicht auch selbst fühlt. Man spricht ja oft Dinge
aus, die eines fremden Wesens Rede sind, aber nun immerfort so reden müssen
wie vielleicht Jarmila!
Haas scheint sie übrigens, wenn ich es richtig verstehe
- aber es ist ja gar kein Brief, es ist betrunkenes Leid und ich verstehe
es gar nicht-nicht völlig verlassen zu haben.
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Milena, Fleißige, Dein Zimmer ändert sich mir in der Erinnerung,
der Schreibtisch und das Ganze sah eigentlich nicht sehr nach Arbeit aus,
aber jetzt so viel Arbeit und ich fühle sie, sie überzeugt mich,
es muß großartig heiß und kühl und fröhlich
in dem Zimmer sein. Nur der Schrank bleibt in seiner Schwerfälligkeit
und manchmal ist das Schloß verdorben und er gibt nichts heraus,
krampfhaft hält er sich zu und besonders das Kleid das Du am "Sonntag"
hattest, verweigert er. Das ist ja kein Schrank; solltest Du Dich einmal
neu einrichten, werfen wir ihn hinaus.
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Es tut mir einiges was ich in der letzten Zeit geschrieben habe, sehr leid,
sei mir nicht böse. Und quäle Dich bitte nicht immerfort mit
dem Gedanken, dass es nur Deine oder überhaupt Deine Schuld ist,
dass Du nicht loskommst. Es ist vielmehr meine Schuld, ich schreibe
einmal darüber.
1] pitomec M: Dummkopf Mareš. Kafka bezieht
sich hier auf den schon früher genannten Michal Mareš, der ihm
über die Umstände von Reiners Tod berichtet hatte. Milena hatte
offenbar die Glaubwürdigkeit von Mareš' Darstellung in Frage
gestellt. Vgl. Brief vom [13. Juli 1920] Dienstag, 2. Brief, Anm. 5.
2] Haas: Willy Haas lebte damals in Berlin; Ende
März 1921 - nach Ablauf des Trauerjahres - heiratete er Jarmila.
Donnerstag
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at