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An Milena Jesenská

[Prag, 15. Juli 1920]
Donnerstag, später
 

Der Nacht-und-Weiße-Hahn-Brief und der Montagsbrief kamen, der erste ist offenbar der spätere, aber ganz sicher ist es nicht. Ich habe sie nur einmal schnell überlesen und muß Dir gleich antworten, Dich bitten nicht schlecht von mir zu denken. Leerer, abscheulicher Unsinn war, was Staša geschrieben hat, wie kannst Du glauben, dass ich ihr recht gebe? Wie weit ist Wien von Prag, dass Du so etwas denken kannst und wie nah ist es, im Wald beisammen zu liegen und wie lang ist es her. Und Eifersucht ist es keine, es spielt nur so um Dich; weil ich Dich von allen Seiten fassen will, also auch von der Seite der Eifersucht, aber es ist dumm und es wird nicht sein, es sind nur die ungesunden Träume des Allein-seins. Auch von Max machst Du Dir falsche Vorstellungen, gestern endlich richtete ich ihm Deine Grüße aus, mit Ärger (siehe oben!) weil er immerfort gegrüßt wird. Da er aber für alles gewöhnlich eine Erklärung hat, so sagte er, dass Du wahrscheinlich nur deshalb ihn öfters grüßen läßt, weil ich seine herzlichsten Grüße Dir noch niemals ausgerichtet habe, ich solle das endlich tun, dann werde es wahrscheinlich zu meiner Beruhigung aufhören. Möglich, ich versuche es also so.

Und sonst mache Dir gar keine Sorgen meinetwegen Milena, das würde noch fehlen, dass Du Dir meinetwegen Sorgen machst. Wäre nicht die "Angst" die seit paar Tagen mich hält und über die ich heute morgen bei Dir Klage geführt habe, ich wäre fast ganz gesund. Wie kam es übrigens, dass Du damals im Wald sagt auch Du hättest es Dir nicht anders gedacht? Es war oben im Wald, am zweiten Tag. Ich unterscheide die Tage genau, der erste war der unsichere, der zweite war der allzu sichere, der dritte war der reuige, der vierte war der gute.

An Frau Kohler schicke ich gleich, so wie ich es gerade bei mir habe, 100 cechische K in 50 K Noten und 100 österr. Kronen. Wüßtest Du für nächstens eine andere Art der Überweisung als die im rekommandierten Brief, wäre es besser. Man kann z. B. auch telegraphisch postlagernd Geld überweisen, allerdings nicht unter einem Decknamen, es muß der wirkliche Name sein. Und was den Monat auf dem Land betrifft, warum ist das Geld des Vaters oder Laurins besser als meines? Übrigens, das ist ja gleichgültig, nur sage niemals dass es viel ist, was Du verlangst. Und Jarmila? Kommt sie?

Jetzt muß ich aber zur Hochzeit der Schwester gehn. Warum bin ich übrigens ein Mensch mit allen Qualen dieses auerunklarsten und entsetzlich verantwortungsvollen Zustandes. Warum bin ich nicht z. B. der glückliche Schrank in Deinem Zimmer, der Dich voll anschaut, wenn Du im Lehnstuhl sitzt oder beim Schreibtisch oder Dich niederlegst oder schläfst (aller Segen über deinen Schlafl). Warum ich es nicht bin? Weil ich zusammenbrechen würde vor Leid, wenn ich Dich im Jammer der letzten Tage gesehen hätte, oder gar wenn - Du von Wien wegfahren solltest.

F          


Das Gefühl, dass Du bald einen Paß haben wirst ist sehr wohltuend.

Die Adresse von Max ist Prag V, Ufergasse 8, aber wegen der Frau wäre es vielleicht nicht gut wenn Du dorthin schreibst. Sonst hat er noch zwei Adressen, eben wegen der Frau oder, wenn Du willst, seinetwegen: die Adresse von Dr. Felix Weltsch, Prag, Universitätsbibliothek oder eben meine.




1] Weiße-Hahn-Brief: Ein Brief, den Milena in dem - später mehrmals genannten - Speiselokal "Weißer Hahn" geschrieben hatte. Dieses Lokal in der Josefstädter Straße lag unweit von Milenas Wohnung.


2] Hochzeit der Schwester: Ottla heiratete am 15. Juli 1920 den Juristen Dr. Josef David, einen Christen. Die standesamtliche Trauung war im Prager Rathaus. Vgl. auch Brief vom [30. Mai 1920], Anm. 3.


3] Dr. Felix Weltsch: (1884-1964) Er gehörte mit Max Brod und Oskar Baum zum engsten Freundeskreis Kafkas.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at