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An Milena Jesenská

[Prag, 13. Juli 1920]
Dienstag
 

Hier sind Deine zwei Telegramme; ich verstehe, solange Jarmila-Briefe waren hast Du nach Kramer-Post nicht gefragt, es ist alles in Ordnung vor allem mußt Du gar nicht fürchten, dass ich etwas, ohne vorher Deine Zustimmung zu haben, selbstständig tue. Die Hauptsache ist aber dass ich endlich nach einer allerdings fast schlaflosen Nacht vor diesem Brief sitze der mir unendlich wichtig vorkommt. Alle Briefe die ich Dir aus Prag geschrieben habe, hätten nicht geschrieben werden müssen, gar die letzten und nur dieser sollte bestehn oder vielmehr sie dürften dasein, es wäre gleichgültig, aber dieser Brief müßte obenan stehn. Leider werde ich nicht den geringsten Teil davon sagen können, was ich Dir gestern abend nachdem ich Staša verlassen hatte, gesagt habe oder was ich Dir heute Nacht oder am Morgen erzählt habe. Immerhin, die Hauptsache ist: was auch die andern im weiten Kreise um dich von Laurin angefangen über Staša hinweg zu andern die ich nicht kenne, in hocherhabener Klugheit, in tierischer (aber so sind die Tiere nicht) Stumpfheit, in teuflischer Güte, in menschenmörderischer Liebe, über Dich sagen mögen-ich, ich, Milena weiß bis ins Letzte, dass Du recht tust, was Du auch tust, ob Du in Wien bleibst oder herkommst oder zwischen Prag und Wien schweben bleibst oder einmal dies einmal jenes tust. Was hätte ich denn mit Dir überhaupt zu tun, wenn ich das nicht wüßte. So wie im tiefen Meer kein Plätzchen ist, das nicht immerfort unter schwerstem Drucke steht, so ist es bei Dir, aber alles andere Leben ist eine Schande und mir wird übel davon; ich dachte bisher ich könnte das Leben nicht ertragen, Menschen nicht ertragen und ich habe mich sehr geschämt, Du aber bestätigst mir jetzt, dass es nicht das Leben war, was mir unerträglich schien.

Staša ist schrecklich, verzeih. Ich habe Dir gestern einen Brief über sie geschrieben aber nicht wegzuschikken gewagt. Sie ist wie Du sagtest, herzlich, freundlich, schön, weich, schlank, aber schrecklich. Sie war Deine Freundin und es muß einmal etwas wie ein Himmelslicht in ihr gewesen sein, aber es ist ausgelöscht in fürchterlicher Vollständigkeit. Man steht vor ihr mit dem Grausen als wäre man vor einem gefallenen Engel. Ich weiß nicht, was mit ihr geschehen ist, wahrscheinlich ist sie von ihrem Mann ausgelöscht. Sie ist müde und tot und weiß es nicht. Wenn ich mir die Hölle vorstellen will, denke ich an sie und ihren Mann und wiederhole mir zähneklappernd den Satz "dann laufen wir in den Wald". Verzeih Milena, liebe liebe Milena verzeih, aber es ist so.

Ich war allerdings nur eine ¾ Stunde mit ihr beisammen, in ihrer Wohnung und dann auf dem Weg ins deutsche Teater. Ich war überfreundlich, übergesprächig, übervertrauensvoll, nun es war ja aber auch eine Gelegenheit endlich einmal nur von Dir zu sprechen und Du verdecktest mir lange ihr wahres Gesicht. Was für eine steinerne Stirn sie hat und in was für Goldlettern dort geschrieben steht: " ich bin tot und wer nicht auch tot ist, den verachte ich". Aber freundlich war sie natürlich und alles mögliche haben wir besprochen wegen einer Reise nach Wien, ich kann mich aber nicht dazu überreden, dass es eine gute Bedeutung für Dich haben könnte, wenn sie käme, für sie vielleicht.

Abend war ich dann bei Laurin, er war nicht in der Redaktion - ich hatte mich verspätet -, ich saß ein Weilchen mit einem Mann, den ich von früher her kenne auf dem Kanapee auf dem Reiner vor paar Monaten zuletzt gelegen ist. Der Mann war den ganzen letzten Abend mit ihm beisammen gewesen und erzählte mir manches.

So war der Tag zu stark für mich gewesen und ich konnte nicht schlafen, auch war meine Schwester mit Mann und Kind wegen des spanischen Onkels aus Marienbad für a Tage gekommen und die schöne Wohnung war nicht mehr leer. Aber sieh wie gut man zu mir ist (ich sage das nur so, als würden sie dadurch dass ich es Dir vorbringe, für ihre Güte belohnt), sie lassen mich im Schlafzimmer, tragen das eine Bett hinaus, verteilen sich in den andern unaufgeräumten Zimmern, lassen mir das Badezimmer, waschen sich in der Küche u.s.f. Ja, es geht mir gut.

Dein          


Irgendwie bin ich mit dem Brief gar nicht einverstanden, es sind nur Überreste intensivsten heimlichsten Gesprächs.


am linken Rand der zweiten Briefseite (Beschriftung von "nicht) Stumpfheit" bis "schrecklich. Sie"): Für den Chikagoer Plan bin ich sehr, unter der Voraussetzung, dass auch Laufburschen gebraucht werden, die nicht laufen können.




1] Kramer-Post: Kramer war der Deckname, unter dem Kafka postlagernd an Milena schrieb. Vgl. auch Brief vom [15. Juli 1920], S. 117.


2] Ich habe . . . wegzuschicken gewagt: Vermutlich handelt es sich dabei um den nicht erhaltenen Brief Nr. 16.


3] Chikagoer Plan: Ernst Pollak, der mit seiner Arbeit in der Länderbank unzufrieden war, trug sich u. a. mit der Absicht, nach Chicago auszuwandern.


4] Redaktion: Redaktion des Verlags Orbis in der Vinohradská, in dem die Tageszeitung "Tribuna" erschien.


5] mit einem Mann: Michal [eigtl. Josef] Mareš (1893-1971), ein aus Teplitz-Schönau stammender Redakteur der "Tribuna"; Lyriker, Reporter und später auch Filmdramaturg. War längere Zeit mit Josef Reiner befreundet. Er glaubte, Jarmila und Willy Haas hätten den jungen Redakteur in den Tod getrieben. Vgl, Brief vom [22. Juli 1920] Donnerstag, Anm. 2.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at