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An Milen Jesenská

[Prag, 9. Juli 1920]
Freitag
 

Alles Schreiben scheint mir wertlos, ist es auch. Am besten wäre wohl, ich fahre nach Wien und nehme Dich mit, vielleicht tue ich es auch, trotzdem Du es nicht willst. Es gibt ja wirklich nur zwei Möglichkeiten, eine schöner als die andere, entweder Du kommst nach Prag oder nach Libešic. Mißtrauisch nach alter Judenart habe ich mich gestern an Jilovský herangeschlichen, kurz vor der Abfahrt nach Libešic habe ich ihn erwischt, er hatte Deinen Brief an Staša. Er ist ein ausgezeichneter Mensch, fröhlich, offen, klug, nimmt einen unter den Arm, schwätzt darauf los, ist zu allem bereit, versteht alles und noch ein wenig mehr. Er hatte die Absicht mit seiner Frau zu Florian bei Brünn zu fahren und würde von dort zu Dir nach Wien weiterfahren. Heute nachmittag kommt er wieder nach Prag zurück, wird die Antwort der Staša bringen, ich spreche mit ihm um 3 Uhr nachmittag, dann telegraphiere ich Dir. Verzeih das Geschwätz der 11 Briefe, wirf sie bei Seite, jetzt kommt die Wirklichkeit, die ist größer und besser. Angst muß man im Augenblick glaube ich nur wegen eines haben, wegen Deiner Liebe zu Deinem Mann. Was die neue Aufgabe betrifft von der Du schreibst so ist sie wohl schwer, unterschätze aber nicht die Kräfte, die mir Deine Nähe gibt.

Vorläufig schlafe ich zwar nicht, bin aber viel ruhiger als ich gestern abend gegenüber Deinen zwei Briefen dachte (zufällig war Max dabei, was nicht unbedingt gut war, denn es war doch zu sehr meine Sache, ach, es fängt schon die Eifersucht des Nicht-Eifersüchtigen an, arme Milena). Dein heutiges Telegramm bringt auch ein wenig Beruhigung. Um Deinen Mann habe ich jetzt, wenigstens jetzt, nicht allzugroße, nicht unerträgliche Sorge. Er hatte eine ungeheuere Aufgabe übernommen, hat sie zum Teil im Wesen, vielleicht zur Gänze in Ehren durchgeführt, weiterzutragen scheint er mir nicht fähig, undzwar nicht deshalb weil es ihm an Kräften dafür fehlen würde (was sind denn meine Kräfte gegen die seinen?) sondern deshalb weil er durch das was bisher geschehn ist, zusehr belastet, zu sehr bedrückt, zusehr um die Koncentration gebracht ist, die dafür nötig ist. Vielleicht wird es ihm doch neben dem andern eine Erleichterung sein. Warum soll ich ihm nicht schreiben?

F                   




Vermutlich Brief Nr. 12


1] Jílovksý: Rudolf Jílovský (1890-1954), der Ehemann von Milenas Freundin Staša, vgl. Brief vom [29. Mai 1920], Anm. 6.


2] Florian: Josef Florian (1873-1941), im mährischen Stará Říše (Altreisch bei Iglau) wirkender Verleger, Übersetzer und Herausgeber besonders von katholischer Dichtung. Bekannt wurden vor allem zwei bei ihm verlegte Reihen: "Dobrá dílo" ["Das gute Werk"] (ab 1912) und "Nova et Vetera" (1912-1922). Florian brachte im Jahre 1929 die erste tschechische Ausgabe von Kafkas "Verwandlung" als bibliophilen Druck mit Holzschnitten, in der Übersetzung von Ludvik Vrána und František Pastor, heraus. Noch im gleichen Jahr erschienen bei Florian fast alle Stücke aus Kafkas Sammelband "Ein Landarzt. Kleine Erzählungen" in der Übersetzung Ludvík Vránas.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at