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An Milena Jesenská

[Prag, 6. Juli 1920]
Dienstag früh
 

6)

Ein kleiner Schlag für mich: Ein Telegramm aus Paris, nach welchem ein alter Onkel, den ich allerdings im Grunde sehr lieb habe, der in Madrid lebt und schon viele Jahre nicht hier war, morgen abend kommt. Ein Schlag deshalb weil es mir Zeit wegnehmen wird und ich alle Zeit und tausendmal mehr als alle Zeit und am liebsten alle Zeit die es gibt für Dich brauche, für das Denken an Dich, für das Atmen in Dir. Die Wohnung wird mir hier auch unruhig, die Abende unruhig, ich wollte anderswo sein. Vieles wollte ich anders und das Bureau wollte ich gar nicht, aber dann glaube ich wieder, dass ich Schläge ins Gesicht verdiene, wenn ich Wünsche ausspreche über diese Gegenwart hinaus, diese Dir gehörige Gegenwart.


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Kann ich denn zu Laurin gehn? Er kennt Pick z. B. Könnte es nicht gelegentlich leicht geschehn, dass es dadurch herauskommt, dass ich in Wien war? Schreib mir darüber.


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Max ist sehr aufgeregt darüber, was Du von Přibram aus dem Sanatorium erzählst, er macht sich Vorwürfe, das, was er schon für ihn eingeleitet hatte, leichtsinnig abgebrochen zu haben. Auch hat er jetzt derartige Beziehungen zu den Behörden, dass er ohne große Schwierigkeiten das Notwendige vielleicht erreichen könnte. Er bittet Dich sehr, kurz zusammenzustellen, was sich über das Unrecht das an Přibram begangen wird, sagen läßt. Wenn Du kannst, schick mir diese kurze Zusammenstellung gelegentlich. (Der Russe hieß: Sprach)


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Ich kann Dir irgendwie nichts mehr schreiben, als das was nur uns, uns im Gedränge der Welt, nur uns betrifft. Alles Fremde ist fremd. Unrecht! Unrecht! Aber die Lippen lallen und das Gesicht liegt in Deinem Schooß.


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Eine Bitterkeit blieb aus Wien, darf ich es sagen? Oben im Wald am zweiten Tag glaube ich sagtest Du etwa:

Lange kann der Kampf mit dem Vorzimmer nicht dauern." Und jetzt im vorletzten Meraner Brief schreibst Du von der Krankheit. Wie soll ich zwischen diesen 2 Dingen den Ausweg finden. Ich sage das nicht aus Eifersucht, Milena, ich bin nicht eifersüchtig. Entweder ist die Welt so winzig oder wir so riesenhaft, jedenfalls füllen wir sie vollständig. Auf wen sollte ich eifersüchtig sein?




1] ein alter Onkel: Kafkas Onkel Alfred Löwy (1852-1923), Bruder seiner Mutter, war Eisenbahndircktor in Madrid.


2] Laurin: Arne Laurin [eigtl. Arnošt Lustig] (1889-1945) war damals stellvertretender Chefredakteur der "Tribuna".


3] Pick: Otto Pick (1887-1940), Bekannter Kafkas, Lyriker, Übersetzer, Kritiker und Herausgeber; wirkte an der seit März 1921 erscheinenden "Prager Presse".


4] Přibram: Karl Přibram: (1877-1973); mit seinem Bruder Ewald war Kafka während seiner Gymnasialzeit befreundet. Vgl. auch Brief vom [7. September 1920], Anm. 2 und 3.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at