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An Milena Jesenská
6)
Ein kleiner Schlag für mich: Ein Telegramm aus Paris, nach welchem
ein alter Onkel, den ich allerdings im Grunde sehr lieb
habe, der in Madrid lebt und schon viele Jahre nicht hier war, morgen abend
kommt. Ein Schlag deshalb weil es mir Zeit wegnehmen wird und ich alle
Zeit und tausendmal mehr als alle Zeit und am liebsten alle Zeit die es
gibt für Dich brauche, für das Denken an Dich, für das Atmen
in Dir. Die Wohnung wird mir hier auch unruhig, die Abende unruhig, ich
wollte anderswo sein. Vieles wollte ich anders und das Bureau wollte ich
gar nicht, aber dann glaube ich wieder, dass ich Schläge ins
Gesicht verdiene, wenn ich Wünsche ausspreche über diese Gegenwart
hinaus, diese Dir gehörige Gegenwart.
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Kann ich denn zu Laurin gehn? Er kennt Pick
z. B. Könnte es nicht gelegentlich leicht geschehn, dass es dadurch
herauskommt, dass ich in Wien war? Schreib mir darüber.
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Max ist sehr aufgeregt darüber, was Du von Přibram aus dem Sanatorium
erzählst, er macht sich Vorwürfe, das, was er schon für
ihn eingeleitet hatte, leichtsinnig abgebrochen zu haben. Auch hat er jetzt
derartige Beziehungen zu den Behörden, dass er ohne große
Schwierigkeiten das Notwendige vielleicht erreichen könnte. Er bittet
Dich sehr, kurz zusammenzustellen, was sich über das Unrecht das an
Přibram begangen wird, sagen läßt. Wenn
Du kannst, schick mir diese kurze Zusammenstellung gelegentlich.
(Der Russe hieß: Sprach)
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Ich kann Dir irgendwie nichts mehr schreiben, als das was nur uns, uns
im Gedränge der Welt, nur uns betrifft. Alles Fremde ist fremd. Unrecht!
Unrecht! Aber die Lippen lallen und das Gesicht liegt in Deinem Schooß.
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Eine Bitterkeit blieb aus Wien, darf ich es sagen? Oben im Wald am zweiten
Tag glaube ich sagtest Du etwa:
Lange kann der Kampf mit dem Vorzimmer nicht dauern." Und jetzt im
vorletzten Meraner Brief schreibst Du von der Krankheit. Wie soll ich zwischen
diesen 2 Dingen den Ausweg finden. Ich sage das nicht aus Eifersucht, Milena,
ich bin nicht eifersüchtig. Entweder ist die Welt so winzig oder wir
so riesenhaft, jedenfalls füllen wir sie vollständig. Auf wen
sollte ich eifersüchtig sein?
1] ein alter Onkel: Kafkas Onkel Alfred Löwy
(1852-1923), Bruder seiner Mutter, war Eisenbahndircktor in Madrid.
2] Laurin: Arne Laurin [eigtl. Arnošt Lustig]
(1889-1945) war damals stellvertretender Chefredakteur der "Tribuna".
3] Pick: Otto Pick (1887-1940), Bekannter Kafkas,
Lyriker, Übersetzer, Kritiker und Herausgeber; wirkte an der seit
März 1921 erscheinenden "Prager Presse".
4] Přibram: Karl Přibram: (1877-1973);
mit seinem Bruder Ewald war Kafka während seiner Gymnasialzeit befreundet.
Vgl. auch Brief vom [7. September 1920], Anm. 2 und 3.
Dienstag früh
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at