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An Milena Jesenská

[Prag, 5. Juli 1920]
Montag vormittag
 

4)

Früh bekam ich den Brief von Freitag, später den Freitag-Nachtbrief. Der erste so traurig, trauriges Bahnhofgesicht, traurig nicht so sehr wegen seines Inhalts, als weil er veraltet ist, alles das schon vorüber ist, der gemeinsame Wald, die gemeinsame Vorstadt, die gemeinsame Fahrt. Es geht ja nicht vorüber, niemals, diese schnurgerade gemeinsame Fahrt, hinauf durch die steinerne Gasse, zurück durch die Allee in der Abendsonne, es hört nicht auf und es ist doch ein dummer Scherz zu sagen, dass es nicht aufhört. Akten liegen hier herum, paar Briefe die ich jetzt gelesen habe, Begrüßungen beim Direktor (nicht entlassen) und sonst noch da und dort, und zu allem läutet eine kleine Glocke im Ohr: "sie ist nicht mehr bei dir", allerdings gibt es auch noch eine gewaltige Glocke irgendwo am Himmel und die läutet: "sie wird dich nicht verlassen", aber die kleine Glocke ist eben im Ohr. Und dann ist wieder der Nachtbrief da, unverständlich, wie sich die Brust genug weiten und zusammenziehn kann, um diese Luft zu atmen, unverständlich, wie man fern von Dir sein kann.

Und trotzdem, ich klage nicht, das alles ist keine Klage und ich habe Dein Wort.


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Jetzt die Geschichte der Reise und dann sage noch dass Du kein Engel bist: Seit jeher wußte ich, dass mein österreichisches Visum eigentlich (und uneigentlich) schon vor a Monaten abgelaufen war, aber in Meran hatte man mir gesagt, dass es für die Durchfahrt überhaupt nicht nötig sei und tatsächlich machte man mir jetzt bei der Einreise in Österreich keine Aussetzung. Deshalb vergaß ich auch in Wien diesen Fehler vollständig. In Gmünd aber bei der Paßstelle fand der Beamte - ein junger Mann, hart - diesen Fehler gleich heraus. Der Paß wurde beiseite gelegt, alle durften weiter zur Zollrevision gehn, ich nicht, das war schon schlimm genug [immerfort werde ich gestört, es ist doch der erste Tag, ich bin noch nicht verpflichtet Bureaugeschwätz anzuhören und immerfort kommt man und will mich von Dir forttreiben d. h. Dich von mir, aber es wird nicht gelingen Milena nichtwahr? niemandem, niemals.] So war es also, aber da fingst schon Du zu arbeiten an. Ein Grenzpolizist kommt freundlich, offen, österreichisch, teilnehmend, herzlich - und führt mich über Treppen und Gänge ins Grenzinspektorat. Dort steht schon mit einem ähnlichen Paßfehler eine rumänische Judenfrau, merkwürdigerweise auch Deine freundliche Abgesandte, Du Judenengel. Aber die Gegenkräfte sind noch viel stärker. Der große Inspektor und sein kleiner Adjunkt beide gelb mager verbissen, wenigstens jetzt, übernehmen den Paß. Der Inspektor ist gleich fertig: "Nach Wien zurückfahren und den Sichtvermerk bei der Polizeidirektion holen!" Ich kann nichts anderes sagen als mehrere Male: "Das ist für mich schrecklich. " Der Inspektor antwortet ebenfalls mehrere Male ironisch und böse: "Das kommt Ihnen nur so vor." "Kann man nicht telegraphisch den Vermerk bekommen?" "Nein" "Wenn man alle Kosten trägt?" "Nein" "Gibt es hier keine höhere Instanz?" "Nein" Die Frau, die mein Leid sieht und großartig ruhig ist, bittet den Inspektor, dass er wenigstens mich durchlassen soll. Zu schwache Mittel, Milena! So bringst Du mich nicht durch. Ich muß den langen Weg zur Paßstelle wieder zurückgehn und mein Gepäck holen, mit der heutigen Abreise ist es also endgültig vorbei. Und nun sitzen wir in dem Grenzinspektorats-zimmer beisammen, auch der Polizist weiß wenig Trost, nur dass die Gültigkeit der Fahrkarten sich verlängern läßt udgl., der Inspektor hat sein letztes Wort gesagt und sich in sein Privatbureau zurückgezogen, nur der kleine Adjunkt ist noch da. Ich rechne: der nächste Zug nach Wien fährt um 10 Uhr abends ab, kommt um ½ 3 nachts in Wien an. Von dem Riva-Ungeziefer bin ich noch zerbissen, wie wird mein Zimmer beim Franz Josefs Bahnhof aussehn? Aber ich bekomme ja überhaupt keines, nun dann fahre ich (ja, um ½ 3) in die Lerchenfelder Straße und bitte um Unterkunft (ja, um 5 Uhr früh). Aber wie das auch sein wird, jedenfalls muß ich mir also Montag vormittag den Sichtvermerk holen (bekomme ich ihn aber gleich und nicht erst Dienstag?) und dann zu Dir gehn, Dich überraschen in der Tür, die Du öffnest. Lieber Himmel. Da macht das Denken eine Pause, dann aber geht es weiter: Aber in welchem Zustande werde ich sein nach der Nacht und der Fahrt und abend werde ich doch gleich wieder fortfahren müssen mit dem 16stündigen Zug, wie werde ich in Prag ankommen und was wird der Direktor sagen, den ich also jetzt wieder telegraphisch um Urlaubsverlängerung bitten muß? Das alles willst Du gewiß nicht, aber was willst Du denn dann eigentlich? Es geht doch nicht anders. Die einzige kleine Erleichterung wäre, fällt mir ein, in Gmünd zu übernachten und erst früh nach Wien zu fahren und ich frage schon ganz müde den stillen Adjunkten nach einem Morgenzug, der nach Wien fährt. Um ½ 6 und kommt um 11 Uhr vormittag an. Gut, mit dem werde ich also fahren und die Rumänin auch. Aber hier ergibt sich plötzlich eine Wendung im Gespräch, ich weiß nicht auf welche Weise, es blitzt jedenfalls auf, dass der kleine Adjunkt uns helfen will. Wenn wir in Gmünd übernachten, wird er uns früh, wo er allein im Bureau ist, im Geheimen nach Prag mit dem Personenzug durchlassen, wir kommen dann um 4 Uhr nachmittag nach Prag. Dem Inspektor gegenüber sollen wir sagen, dass wir mit dem Morgenzug nach Wien fahren werden. Wunderbar! Allerdings nur verhältnismäßig wunderbar, denn nach Prag werde ich ja doch telegraphieren müssen. Immerhin. Der Inspektor kommt, wir spielen eine kleine Komödie den Wiener Morgenzug betreffend, dann schickt uns der Adjunkt fort, abend sollen wir ihn zur Besprechung des Weiteren im Geheimen besuchen. Ich in meiner Blindheit denke, das käme von Dir, während es in Wirklichkeit nur der letzte Angriff der Gegenkräfte ist. Nun gehn wir also, die Frau und ich, langsam aus dem Bahnhof (der Schnellzug der uns hätte weiter bringen sollen, steht noch immer da, die Gepäckrevision dauert ja lange). Wie weit ist es in die Stadt? Eine Stunde. Auch das noch. Aber es zeigt sich, dass auch beim Bahnhof 2 Hotels stehn, in eines werden wir gehn. Ein Geleise führt nahe an den Hotels vorbei, das müssen wir noch überqueren, aber es kommt gerade ein Lastzug, ich will zwar noch rasch vorher hinübergehn, aber die Frau hält mich zurück, nun bleibt aber der Lastzug gerade vor uns stehn und wir müssen warten. Eine kleine Beigabe zum Unglück, denken wir. Aber gerade dieses Warten, ohne das ich Sonntag nicht mehr nach Prag gekommen wäre, ist die Wendung. Es ist, als hättest Du, so wie Du die Hotels am Westbahnhof abgelaufen hast, jetzt alle Tore des Himmels abgelaufen, um für mich zu bitten, denn jetzt kommt Dein Polizist den genug langen Weg vom Bahnhof atemlos uns nachgelaufen und schreit: "Schnell zurück, der Inspektor läßt Sie durch!" Ist es möglich? So ein Augenblick würgt an der Kehle. Zehnmal müssen wir den Polizisten bitten, ehe er Geld von uns nimmt. Jetzt aber zurücklaufen, das Gepäck aus dem Inspektorat holen, damit zur Paßstelle laufen, dann zur Zollrevision. Aber jetzt hast Du schon alles in Ordnung gebracht, ich kann mit dem Gepäck nicht weiter, da ist schon zufällig ein Gepäckträger neben mir, bei der Paßstelle komme ich ins Gedränge, der Polizist macht mir den Weg frei, bei der Zollrevision verliere ich, ohne es zu wissen, das Etui mit den goldenen Hemdknöpfen, ein Beamter findet es und reicht es mir. Wir sind im Zug und fahren sofort, endlich kann ich mir den Schweiß von Gesicht und Brust wischen. Bleib immer bei mir!

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Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at