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An Milena Jesenská
4)
Früh bekam ich den Brief von Freitag, später den Freitag-Nachtbrief.
Der erste so traurig, trauriges Bahnhofgesicht, traurig nicht so sehr wegen
seines Inhalts, als weil er veraltet ist, alles das schon vorüber
ist, der gemeinsame Wald, die gemeinsame Vorstadt, die gemeinsame Fahrt.
Es geht ja nicht vorüber, niemals, diese schnurgerade gemeinsame Fahrt,
hinauf durch die steinerne Gasse, zurück durch die Allee in der Abendsonne,
es hört nicht auf und es ist doch ein dummer Scherz zu sagen, dass
es nicht aufhört. Akten liegen hier herum, paar Briefe die ich jetzt
gelesen habe, Begrüßungen beim Direktor (nicht entlassen) und
sonst noch da und dort, und zu allem läutet eine kleine Glocke im
Ohr: "sie ist nicht mehr bei dir", allerdings gibt es auch
noch eine gewaltige Glocke irgendwo am Himmel und die läutet: "sie
wird dich nicht verlassen", aber die kleine Glocke ist eben im Ohr.
Und dann ist wieder der Nachtbrief da, unverständlich, wie sich die
Brust genug weiten und zusammenziehn kann, um diese Luft zu atmen, unverständlich,
wie man fern von Dir sein kann.
Und trotzdem, ich klage nicht, das alles ist keine Klage und ich habe Dein
Wort.
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Jetzt die Geschichte der Reise und dann sage noch dass Du kein Engel
bist: Seit jeher wußte ich, dass mein österreichisches
Visum eigentlich (und uneigentlich) schon vor a Monaten abgelaufen war,
aber in Meran hatte man mir gesagt, dass es für die Durchfahrt
überhaupt nicht nötig sei und tatsächlich machte man mir
jetzt bei der Einreise in Österreich keine Aussetzung. Deshalb vergaß
ich auch in Wien diesen Fehler vollständig. In Gmünd aber bei
der Paßstelle fand der Beamte - ein junger Mann, hart - diesen Fehler
gleich heraus. Der Paß wurde beiseite gelegt, alle durften weiter
zur Zollrevision gehn, ich nicht, das war schon schlimm genug [immerfort
werde ich gestört, es ist doch der erste Tag, ich bin noch nicht verpflichtet
Bureaugeschwätz anzuhören und immerfort kommt man und will mich
von Dir forttreiben d. h. Dich von mir, aber es wird nicht gelingen Milena
nichtwahr? niemandem, niemals.] So war es also, aber da fingst schon Du
zu arbeiten an. Ein Grenzpolizist kommt freundlich, offen, österreichisch,
teilnehmend, herzlich - und führt mich über Treppen und Gänge
ins Grenzinspektorat. Dort steht schon mit einem ähnlichen Paßfehler
eine rumänische Judenfrau, merkwürdigerweise auch Deine freundliche
Abgesandte, Du Judenengel. Aber die Gegenkräfte sind noch viel stärker.
Der große Inspektor und sein kleiner Adjunkt beide gelb mager verbissen,
wenigstens jetzt, übernehmen den Paß. Der Inspektor ist gleich
fertig: "Nach Wien zurückfahren und den Sichtvermerk bei der
Polizeidirektion holen!" Ich kann nichts anderes sagen als mehrere
Male: "Das ist für mich schrecklich. " Der Inspektor antwortet
ebenfalls mehrere Male ironisch und böse: "Das kommt Ihnen nur
so vor." "Kann man nicht telegraphisch den Vermerk bekommen?"
"Nein" "Wenn man alle Kosten trägt?" "Nein"
"Gibt es hier keine höhere Instanz?" "Nein"
Die Frau, die mein Leid sieht und großartig ruhig ist, bittet den
Inspektor, dass er wenigstens mich durchlassen soll. Zu schwache Mittel,
Milena! So bringst Du mich nicht durch. Ich muß den langen Weg zur
Paßstelle wieder zurückgehn und mein Gepäck holen, mit
der heutigen Abreise ist es also endgültig vorbei. Und nun sitzen
wir in dem Grenzinspektorats-zimmer beisammen, auch der Polizist weiß
wenig Trost, nur dass die Gültigkeit der Fahrkarten sich verlängern
läßt udgl., der Inspektor hat sein letztes Wort gesagt und sich
in sein Privatbureau zurückgezogen, nur der kleine Adjunkt ist noch
da. Ich rechne: der nächste Zug nach Wien fährt um 10 Uhr abends
ab, kommt um ½ 3 nachts in Wien an. Von dem Riva-Ungeziefer bin
ich noch zerbissen, wie wird mein Zimmer beim Franz Josefs Bahnhof aussehn?
Aber ich bekomme ja überhaupt keines, nun dann fahre ich (ja, um ½
3) in die Lerchenfelder Straße und bitte um Unterkunft (ja, um 5
Uhr früh). Aber wie das auch sein wird, jedenfalls muß ich mir
also Montag vormittag den Sichtvermerk holen (bekomme ich ihn aber gleich
und nicht erst Dienstag?) und dann zu Dir gehn, Dich überraschen in
der Tür, die Du öffnest. Lieber Himmel. Da macht das Denken eine
Pause, dann aber geht es weiter: Aber in welchem Zustande werde ich sein
nach der Nacht und der Fahrt und abend werde ich doch gleich wieder fortfahren
müssen mit dem 16stündigen Zug, wie werde ich in Prag ankommen
und was wird der Direktor sagen, den ich also jetzt wieder telegraphisch
um Urlaubsverlängerung bitten muß? Das alles willst Du gewiß
nicht, aber was willst Du denn dann eigentlich? Es geht doch nicht anders.
Die einzige kleine Erleichterung wäre, fällt mir ein, in Gmünd
zu übernachten und erst früh nach Wien zu fahren und ich frage
schon ganz müde den stillen Adjunkten nach einem Morgenzug, der nach
Wien fährt. Um ½ 6 und kommt um 11 Uhr vormittag an. Gut, mit
dem werde ich also fahren und die Rumänin auch. Aber hier ergibt sich
plötzlich eine Wendung im Gespräch, ich weiß nicht auf
welche Weise, es blitzt jedenfalls auf, dass der kleine Adjunkt uns
helfen will. Wenn wir in Gmünd übernachten, wird er uns früh,
wo er allein im Bureau ist, im Geheimen nach Prag mit dem Personenzug durchlassen,
wir kommen dann um 4 Uhr nachmittag nach Prag. Dem Inspektor gegenüber
sollen wir sagen, dass wir mit dem Morgenzug nach Wien fahren werden.
Wunderbar! Allerdings nur verhältnismäßig wunderbar, denn
nach Prag werde ich ja doch telegraphieren müssen. Immerhin. Der Inspektor
kommt, wir spielen eine kleine Komödie den Wiener Morgenzug betreffend,
dann schickt uns der Adjunkt fort, abend sollen wir ihn zur Besprechung
des Weiteren im Geheimen besuchen. Ich in meiner Blindheit denke, das käme
von Dir, während es in Wirklichkeit nur der letzte Angriff der Gegenkräfte
ist. Nun gehn wir also, die Frau und ich, langsam aus dem Bahnhof (der
Schnellzug der uns hätte weiter bringen sollen, steht noch immer da,
die Gepäckrevision dauert ja lange). Wie weit ist es in die Stadt?
Eine Stunde. Auch das noch. Aber es zeigt sich, dass auch beim Bahnhof
2 Hotels stehn, in eines werden wir gehn. Ein Geleise führt nahe an
den Hotels vorbei, das müssen wir noch überqueren, aber es kommt
gerade ein Lastzug, ich will zwar noch rasch vorher hinübergehn, aber
die Frau hält mich zurück, nun bleibt aber der Lastzug gerade
vor uns stehn und wir müssen warten. Eine kleine Beigabe zum Unglück,
denken wir. Aber gerade dieses Warten, ohne das ich Sonntag nicht mehr
nach Prag gekommen wäre, ist die Wendung. Es ist, als hättest
Du, so wie Du die Hotels am Westbahnhof abgelaufen hast, jetzt alle Tore
des Himmels abgelaufen, um für mich zu bitten, denn jetzt kommt Dein
Polizist den genug langen Weg vom Bahnhof atemlos uns nachgelaufen und
schreit: "Schnell zurück, der Inspektor läßt Sie
durch!" Ist es möglich? So ein Augenblick würgt an der
Kehle. Zehnmal müssen wir den Polizisten bitten, ehe er Geld von uns
nimmt. Jetzt aber zurücklaufen, das Gepäck aus dem Inspektorat
holen, damit zur Paßstelle laufen, dann zur Zollrevision. Aber jetzt
hast Du schon alles in Ordnung gebracht, ich kann mit dem Gepäck nicht
weiter, da ist schon zufällig ein Gepäckträger neben mir,
bei der Paßstelle komme ich ins Gedränge, der Polizist macht
mir den Weg frei, bei der Zollrevision verliere ich, ohne es zu wissen,
das Etui mit den goldenen Hemdknöpfen, ein Beamter findet es und reicht
es mir. Wir sind im Zug und fahren sofort, endlich kann ich mir den Schweiß
von Gesicht und Brust wischen. Bleib immer bei mir!
F
Montag vormittag
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at