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An Milena Jesenská

[Prag, 4. bis 5. Juli 1920]
Sonntag ½ 12
 

3) Ich nummeriere

    wenigstens diese

    Briefe, keiner darf

    Dich verfehlen, so

    Wie ich Dich nicht

    Verfehlen durfte in

    Dem kleinen Park


Kein Ergebnis, trotzdem alles doch so klar ist und von mir auch so gesagt wurde. Einzelnheiten will ich nicht erzählen, nur dass sie kein auch nur von der Ferne böses Wort über Dich oder mich sagte. Ich war vor lauter Klarheit nicht einmal mitleidig. Nur das konnte ich der Wahrheit gemäß sagen, dass sich zwischen mir und ihr nichts geändert hat und kaum jemals etwas ändern wird, nur - nichts mehr, abscheulich ist es, Henkerberuf ist es, das ist nicht mein Beruf. Nur das eine, Milena, wenn sie schwer krank wird, (sie sieht sehr schlecht aus und ist maßlos verzweifelt, ich muß morgen nachmittag wieder zu ihr kommen) wenn sie also krank wird oder sonst etwas mit ihr geschieht, ich habe keine Macht mehr darüber, denn ich kann ihr immerfort nur die Wahrheit sagen und diese Wahrheit ist nicht nur Wahrheit, sondern mehr, sondern Aufgelöstsein in Dir, während ich neben ihr gehe - wenn also etwas geschieht, dann Milena mußt Du kommen.

F                 


Dumme Rede, Du kannst ja nicht kommen, aus dem gleichen Grunde.


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Morgen schicke ich Dir den Vater-Brief in die Wohnung, heb ihn bitte gut auf, ich könnte ihn vielleicht doch einmal dem Vater geben wollen. Laß ihn womöglich niemand lesen. Und verstehe beim Lesen alle advokatorischen Kniffe, es ist ein Advokatenbrief. Und vergiß dabei niemals Dein großes Trotzdem.


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Montag früh

Ich schicke Dir den armen Spielmann heute, nicht weil er eine große Bedeutung für mich hat, einmal hatte er sie vor Jahren. Ich schicke ihn aber, weil er so wienerisch, so unmusikalisch, so zum Weinen ist, weil es im Volksgarten auf uns hinuntergesehen hat (auf uns! Du giengst ja neben mir Milena, denk nur, Du bist neben mir gegangen) weil es so bureaukratisch ist und weil er ein geschäftstüchtiges Mädchen geliebt hat.




1] Vater-Brief: Vgl. Brief vom [21. Juni 1920], Anm. 1.


2] den armen Spielmann: Franz Grillparzers Erzählung "Der arme Spielmann", die Kafka wahrscheinlich schon von seiner Schulzeit her kannte, gehörte zu den Dichtungen, die er besonders gerne vorlas; sie hatte "große Bedeutung" für ihn in den Jahren seiner Verlobung mit Felice Bauer, die - wie die Geliebte des armen Spielmanns- ein "geschäftstüchtiges Mädchen" war. (Vgl. u. a. "Tagebücher", S. 282, und "Briefe an Felice", S. 544, 551. 574.) In seinem Brief an Milena vom [13. Juli 1920], S. 108 f., relativiert Kafka seine zuvor so stark betonte Distanz, kritisiert dann aber Grillparzers Dichtung in ungewöhnlich harter Weise.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at