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An Milena Jesenská
Heute Milena, Milena, Milena - ich kann nicht weiter anderes schreiben.
Doch. Heute also Milena nur in Eile, Müdigkeit und Nicht-Gegenwart
(letztere allerdings auch morgen). Wie soll man auch nicht müde sein,
man verspricht einem kranken Menschen ein Viertel Jahr Urlaub und gibt
ihm 4 Tage und von Dienstag und Sonntag nur ein Stück und noch
die Abende und Morgen hat man abgeschnitten. Habe ich nicht recht, dass
ich nicht ganz gesund geworden bin? Habe ich nicht recht? Milena! (In Dein
linkes Ohr gesprochen, während Du daliegst auf dem armen Bett in einem
tiefen Schlaf guten Ursprungs und Dich langsam ohne es zu wissen von rechts
nach links wendest meinem Munde zu.)
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Die Reise? Zuerst war es ganz einfach, auf dem Perron war keine Zeitung
zu haben. Ein Grund hinauszulaufen, Du warst nicht mehr dort, das war in
Ordnung. Dann stieg ich wieder ein, man fuhr ab, ich fing die Zeitung zu
lesen an, alles war noch in Ordnung, nach einem Weilchen hörte ich
auf zu lesen, nun aber warst Du plötzlich nicht mehr da, vielmehr
Du warst da, das fühlte ich in allem was ich bin, aber diese Art des
Daseins war doch sehr anders, als in den 4 Tagen und ich mußte mich
erst daran gewöhnen. Wieder fing ich zu lesen an, das Tagebuchblatt
von Bahr begann aber mit einer Beschreibung des Bades Kreuzen bei Grein
2/D. Nun ließ ich das Lesen, aber als ich hinaussah, fuhr ein Zug
vorüber und auf dem Waggon stand: Grein. Ich sah in das Coupá
zurück. Gegenüber las ein Herr die Národní Listy
vom letzten Sonntag, ich sah dort ein Feuilleton von Růžena
Jesenská, borge es mir aus, fange es nutzlos an, lasse es liegen
und sitze nun da genau mit Deinem Gesicht, wie es beim Abschied auf dem
Bahnhof war. Eine Naturerscheinung war das dort auf dem Perron wie ich
sie noch nie gesehn habe: Sonnenlicht, das nicht durch Wolken, sondern
aus sich selbst trübe wird. Was soll ich noch sagen? Die Kehle folgt
nicht, die Hände folgen nicht.
Dein
Morgen dann die wunderbare Geschichte der weitem Reise
1] gibt ihm 4 Tage: Die vier Tage (Mittwoch bis
Samstag) Verbrachten Kafka und Milena gemeinsam in Wien und auf ausgedehnten
Wanderungen auf den Vorhöhen des Wiener Waldes (Neu-Waldegg). Monate
später berichtet Milena in einem Brief an Max Brod, wie gut es Kafka
damals ging, wie wenig seine Krankheit in Erscheinung trat: "Es war
nicht die geringste Anstrengung nötig, alles war einfach und klar,
ich habe ihn über die Hügel hinter Wien geschleppt.. . "
Vgl. 5. Brief Milenas an Max Brod, S. 370.
Kafka selbst beurteilt in einem späteren Brief an Milena die vier
gemeinsam verbrachten Tage unterschiedlich. Vgl. Brief vom [15.Juli 1920]
Donnerstag, später, S. 117.
2] Tagebuchblatt von Bahr: Hermann Bahr, "Tagebuch",
)Neues Wiener Journal, 28. Jg., Nr. 9576 (4. Juli 1920), S. 4 f.
3] Feuilleton von Růžena Jesenská:
Milenas Tante Růžena Jesenská (1863-1940) schrieb regelmäßig
für die Prager Tageszeitung "Národní listy"
[National-Blätter]. Sie wurde durch Veröffentlichungen neuromantischer
Lyrik und Prosa bekannt und gehörte zu dem Schriftstellerkreis um
die Zeitschrift "Moderní revue", zu dem auch Karel Hlaváček
(1874-1898) und der von Rilke verehrte Julius Zeyer (1841-1901) zählten.
Sonntag
Letzte Änderung: 17.4.2009 werner.haas@univie.ac.at