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An Milena Jesenská

[Prag, 4. Juli 1920]
Sonntag
 

Heute Milena, Milena, Milena - ich kann nicht weiter anderes schreiben. Doch. Heute also Milena nur in Eile, Müdigkeit und Nicht-Gegenwart (letztere allerdings auch morgen). Wie soll man auch nicht müde sein, man verspricht einem kranken Menschen ein Viertel Jahr Urlaub und gibt ihm 4 Tage und von Dienstag und Sonntag nur ein Stück und noch die Abende und Morgen hat man abgeschnitten. Habe ich nicht recht, dass ich nicht ganz gesund geworden bin? Habe ich nicht recht? Milena! (In Dein linkes Ohr gesprochen, während Du daliegst auf dem armen Bett in einem tiefen Schlaf guten Ursprungs und Dich langsam ohne es zu wissen von rechts nach links wendest meinem Munde zu.)


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Die Reise? Zuerst war es ganz einfach, auf dem Perron war keine Zeitung zu haben. Ein Grund hinauszulaufen, Du warst nicht mehr dort, das war in Ordnung. Dann stieg ich wieder ein, man fuhr ab, ich fing die Zeitung zu lesen an, alles war noch in Ordnung, nach einem Weilchen hörte ich auf zu lesen, nun aber warst Du plötzlich nicht mehr da, vielmehr Du warst da, das fühlte ich in allem was ich bin, aber diese Art des Daseins war doch sehr anders, als in den 4 Tagen und ich mußte mich erst daran gewöhnen. Wieder fing ich zu lesen an, das Tagebuchblatt von Bahr begann aber mit einer Beschreibung des Bades Kreuzen bei Grein 2/D. Nun ließ ich das Lesen, aber als ich hinaussah, fuhr ein Zug vorüber und auf dem Waggon stand: Grein. Ich sah in das Coupá zurück. Gegenüber las ein Herr die Národní Listy vom letzten Sonntag, ich sah dort ein Feuilleton von Růžena Jesenská, borge es mir aus, fange es nutzlos an, lasse es liegen und sitze nun da genau mit Deinem Gesicht, wie es beim Abschied auf dem Bahnhof war. Eine Naturerscheinung war das dort auf dem Perron wie ich sie noch nie gesehn habe: Sonnenlicht, das nicht durch Wolken, sondern aus sich selbst trübe wird. Was soll ich noch sagen? Die Kehle folgt nicht, die Hände folgen nicht.

Dein                 


Morgen dann die wunderbare Geschichte der weitem Reise




1] gibt ihm 4 Tage: Die vier Tage (Mittwoch bis Samstag) Verbrachten Kafka und Milena gemeinsam in Wien und auf ausgedehnten Wanderungen auf den Vorhöhen des Wiener Waldes (Neu-Waldegg). Monate später berichtet Milena in einem Brief an Max Brod, wie gut es Kafka damals ging, wie wenig seine Krankheit in Erscheinung trat: "Es war nicht die geringste Anstrengung nötig, alles war einfach und klar, ich habe ihn über die Hügel hinter Wien geschleppt.. . " Vgl. 5. Brief Milenas an Max Brod, S. 370.

Kafka selbst beurteilt in einem späteren Brief an Milena die vier gemeinsam verbrachten Tage unterschiedlich. Vgl. Brief vom [15.Juli 1920] Donnerstag, später, S. 117.


2] Tagebuchblatt von Bahr: Hermann Bahr, "Tagebuch", )Neues Wiener Journal, 28. Jg., Nr. 9576 (4. Juli 1920), S. 4 f.


3] Feuilleton von Růžena Jesenská: Milenas Tante Růžena Jesenská (1863-1940) schrieb regelmäßig für die Prager Tageszeitung "Národní listy" [National-Blätter]. Sie wurde durch Veröffentlichungen neuromantischer Lyrik und Prosa bekannt und gehörte zu dem Schriftstellerkreis um die Zeitschrift "Moderní revue", zu dem auch Karel Hlaváček (1874-1898) und der von Rilke verehrte Julius Zeyer (1841-1901) zählten.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at