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An Milena Jesenská

[Meran, 24. Juni 1920]
Donnerstag
 

Man ist unausgeschlafen viel gescheidter als ausgeschlafen, gestern war ich ein wenig ausgeschlafen, gleich schrieb ich die bestimmten Dummheiten über die Wiener Reise. Schließlich ist diese Reise nichts Geringes, nichts um Späße damit zu machen. Überraschen werde ich Dich jedenfalls auf keine Weise, ich zittere allein schon bei der Vorstellung dessen. Ich komme ja gar nicht in Deine Wohnung. Hast Du Donnerstag noch keinen Rohrpostbrief, dann bin ich nach Prag gefahren. Übrigens käme ich wie ich höre doch am Westbahnhof an - gestern schrieb ich, glaube ich, Südbahnhof-, nun das ist ja gleichgültig. Ich bin auch nicht allzusehr über dem allgemeinen Höchstmaß unpraktisch, untransportabel, nachlässig (vorausgesetzt dass ich ein wenig geschlafen habe), darin mußt Du keine Sorge haben, steige ich in den Wagen, der nach Wien fährt so steige ich höchstwahrscheinlich auch in Wien wieder aus, nur das Einsteigen macht allerdings Umstände. Also auf Wiedersehn (aber es muß nicht in Wien, kann auch in Briefen sein)

F.                  


Ropucha ist schön - ist schön, aber nicht sehr schön nicht sehr schön, es geht der Geschichte wie dem Tausendfüßler; nachdem sie einmal durch den Witz fixiert ist, kann sie sich nicht mehr rühren und erstarrt auch nach rückwärts hin, alle Freiheit, Bewegung der ersten Hälfte ist verloren. Aber abgesehen davon liest es sich wie ein Brief der Milena J., ist es ein Brief dann werde ich ihn beantworten.

Und was Milena betrifft, so hat das mit Deutschtum und Judentum gar nichts zu tun. Am besten verstehen tschechisch (abgesehen von den tschechischen Juden natürlich) die Herren von Naše řeč, am zweitbesten die Leser der Zeitschrift, am drittbesten die Abonnenten und Abonnent bin ich. Als solcher sage ich Dir, dass an Milena tschechisch eigentlich nur das Diminutiv ist: milenka [Geliebte]. Ob es Dir gefällt oder nicht, das sagt die Philologie.




1] Ropucha: Milena hatte ihm ihre Obersetzung von Gustav Meyrinks "Der Fluch der Kröte - Fluch der Kröte" ["Kletba ropuchy - kletba ropuchy"] in der "Tribuna", 11. Jg., Nr. 139 (15. 6. 1920), S. 1 f, geschickt.


2] Naše řeč: [Unsere Sprache]. Zeitschrift zur Erforschung und zur Pflege der tschechischen Sprache, hrsg. von der Tschechischen Akademie für Wissenschaft und Kunst in Prag-Karlín, 1. Jg. (1917) ff.

Letzte Änderung: 17.4.2009werner.haas@univie.ac.at